Der Traurige Engel

  • Der traurige Engel




    Chris saß traurig auf seiner Wolke 1, der untersten von allen. Seine innere Schwermut war so groß, dass sich etliche Wolken um ihn scharten, um ihn zu trösten. Immer wieder flogen andere Engel vorbei, sprachen ihm Mut zu, jedoch vergeblich. Mit den Flügeln zuckend zogen sie von dannen. Seine Tränen fielen auf die Wolken, wurden zu kleinen glitzernden Funken und erloschen. Engel Eliah sah sich das nun schon eine ganze Weile an. "Was können wir nur tun, damit Chris wieder die Freude in sich findet?", fragte er sich ratlos. Viele Engel hatten auf seiner Wolke 12 vorgesprochen und ihn gebeten, doch etwas für den traurigen Engel Chris zu tun. "Gib ihm endlich seine Flügel, einen Engelsnamen und den erleuchteten Blick zur Erde. Dann wird er glücklich sein!", rieten sie Eliah. "Aber das alles muss er sich erst verdienen! Und dafür ist er noch nicht lange genug hier", meinte Eliah zum wiederholten Male. "Dann geh zum erhabenen Erzengel Gabriel und bitte ihn noch mal um eine Chance für ihn! Siehst du denn seine Traurigkeit nicht? Uns anderen Engeln ist es auch schon ganz schwermütig ums Herz. Lass ihn ein Schutzengel sein und den Menschen zur Seite stehen! Wie soll er es sich verdienen, wenn ihr ihn nicht lasst?", insistierten sie. Eliah merkte schon, er musste etwas unternehmen. "Also gut, heute Nachmittag werde ich dem Erzengel einen Besuch abstatten. Vorher kann ich ihn nicht stören. Dann sehen wir weiter!" Die Engel dankten Eliah und flogen hoffnungsvoll zu ihren Wolken.


    Erzengel Gabriel sortierte gerade kopfschüttelnd die Neuzugänge, als Eliah ehrfürchtig eintrat. "Was gibt es? Ich habe viel zu tun!" "Bitte entschuldige, dass ich deine holde Ruhe störe, mein Erzengel. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Die tiefe Traurigkeit von Chris will einfach nicht aufhören. Er versetzt bereits die anderen Engel in Schwermut. Der Himmel trauert. Wir müssen etwas unternehmen. Mein Erzengel, ich weiß, eigentlich ist es noch zu früh, aber bitte, hab ein Einsehen und gib ihm eine Chance, sich zu bewähren, damit er endlich wieder fröhlich sein kann! Bedenke, dass er ein schweres Erdenleben hatte", bat Eliah eindringlich. Der Erzengel runzelte seine Stirn und grübelte so heftig, dass ihm fast der Heiligenschein verrutschte. Nach einer Weile meinte er: "Also gut, bring ihn zu mir. Dann sehen wir weiter. In der Zwischenzeit warte ich auf eine Eingebung." "Oh, ich danke dir, mein Erzengel, ich hole ihn sogleich!", rief Eliah und verließ andächtig den geweihten Raum.


    Chris saß unterdessen auf seiner Wolke 1 und hing seinen kummervollen Gedanken nach. Da hörte er von weit oben die Stimme Eliahs, er möge zu ihm kommen. Verwundert lief er die Wolkenstufen hinauf. Als er vor Wolke 12 stand, klopfte er zaghaft an die Wolkentür. "Komm herein!", sagte Eliah.


    Als Chris vor Eliah stand, sprach dieser: "Wir gehen jetzt gemeinsam zum Erzengel. Viele Engel haben für dich gesprochen, musst du wissen. Sie trauern mit dir und baten um eine Chance der Bewährung für dich. Der Erzengel wartet auf eine Eingebung, wie dir diese gegeben werden kann. Und, Chris, du weißt, dass du dem Erzengel mit entsprechender Ehrfurcht zu begegnen hast, hörst du?", sagte Eliah eindringlich. Chris nickte. "Ja, Engel Eliah, ich werde mich richtig verhalten, ich verspreche es!"


    So stiegen sie die vielen Wolkenstufen bis zur Wolke 71 hinauf. Chris musste sich ziemlich anstrengen, es war ein weiter Weg. Es kam ihm vor, als ob sie direkt in die obersten Wolken des Himmels stiegen. Eliah hingegen hatte es leicht, er konnte ja fliegen. Als sie endlich vor der goldenen Wolkentüre 71 standen, ließ Eliah Chris erst einmal wieder zu Atem kommen. "Wir treten nun ein. Denk an dein Versprechen!", ermahnte ihn Eliah und klopfte an die goldene Wolkentür. Als er ein "Herein" hörte, traten beide ein.


    Chris traute seinen Augen nicht. Zum ersten Mal durfte er den Erzengel sehen. Er musste sich zuerst die Augen schützen, so gleißend hell leuchtete er. Sein Heiligenschein glänzte goldfarben. Chris war völlig verzaubert. Er stand da wie angewurzelt von diesem himmlischen Anblick. "Eine Lichtgestalt aus einer anderen Welt, welch ein wunderbares Wesen!", dachte er begeistert. Eliah zog ihn schließlich mit sich zum Schreibtisch des Erzengels. "So, du bist also der Chris, der den Himmel in eine Trauerweide verwandelt?", fragte ihn Erzengel Gabriel. "Ja, ich bin Chris, erhabener Erzengel", antwortete Chris kleinlaut. Er fühlte sich winzig wie ein Staubkorn in Gegenwart des Leuchtenden. "Warum bist du so traurig und findest keinen Frieden hier?", fragte Gabriel ihn prüfend. "Oh, erhabener Erzengel, es tut mir so leid, ich möchte die anderen Engel nicht traurig machen, aber es ist einfach stärker als ich. Ich versuche dagegen anzukämpfen, glaube mir. Ich möchte so gerne fröhlich sein. Es mag mir einfach nicht gelingen, ich weiß doch selber nicht, wie ich es ändern kann. Ich habe wohl auch noch keine Chance verdient. Jeder andere hat sie mehr verdient als ich. Was habe ich schon getan. Nein, ich habe sie nicht verdient", sagte Chris leise.


    Der Erzengel erhob sich und ging auf und ab. Hinter jedem seiner Schritte hinterließ er eine Spur aus Goldstaub. Chris konnte sich gar nicht sattsehen an seiner Gestalt. Schließlich, es erschien Chris wie eine Ewigkeit, sprach der Erzengel: "Ich sehe, du meinst es ehrlich. Ich bekam in der Tat eine Eingebung, was dich betrifft. Ich hätte keine Eingebung bekommen, wenn es nicht hätte sein sollen. Komm einmal her, auch du Eliah", forderte er beide auf. Ehrfürchtig ging Chris zum Erzengel. Je näher er ihm kam, umso kleiner fühlte er sich. Als Eliah und Chris zu beiden Seiten Gabriels standen, sagte dieser: "Chris, du wirst nun für einen kurzen Moment den erleuchteten Blick erhalten, um auf die Erde zu blicken. Dort wirst du deine Aufgabe sehen!" Der Erzengel berührte Chris mit seinem rechten Flügel an der Schulter, woraufhin es Chris ganz wundersam zumute wurde. Ein unglaubliches Gefühl der engelhaften Leichtigkeit füllte ihn ganz und gar. "Und nun schaut!", sagte Gabriel. Die Wolken wichen beiseite, die Erde erschien Chris so nah, als ob er einen Meter über ihr schweben würde. "Beschreibe, was du siehst, Chris!", forderte der Erzengel ihn auf. "Dort sitzt ein junges Mädchen allein an einem Fluss. Sie schaut nachdenklich und ein wenig traurig aus", erwiderte Chris. Eliah berührte Chris mit seinem linken Flügel. "Was denkt sie?", fragte er. Auf einmal hörte Chris ihre Gedanken ganz klar und deutlich. Völlig verblüfft stotterte er: "Sie fragt sich, ob es wirklich Engel gibt. Sie liebt Engel, sammelt Engelfiguren mit großer Leidenschaft, aber quält sich schon lange mit der Frage, ob Engel wirklich existieren."


    Der Erzengel berührte Chris wieder mit seinem rechten Flügel. Traurig nahm Chris wahr, dass der erleuchtete Blick verschwand. Es war zu schön gewesen, auf die Erde zu schauen. "So ist es, Chris, sie ist traurig, weil ihr niemand diese Frage beantworten kann. Nun, hier ist deine Aufgabe und Chance, Engelsflügel zu erhalten, die, wenn du sie dir verdient hast, den erleuchteten Blick von deiner Wolke aus zu jeder Zeit ermöglichen, um als Schutzengel wirken zu können. Selbstverständlich nur, wenn du deine Aufgabe zu unserer Zufriedenheit ausgeführt hast. Ich werde dich auf die Erde senden. Du wirst Kontakt zu diesem Mädchen aufnehmen, wie, das ist deine Angelegenheit. Deine Aufgabe besteht darin, sie davon zu überzeugen, dass Engel existieren. Du darfst jedoch nicht mit einem Wort erwähnen, dass du ein Engel bist, auch darfst du keine Wunder vollbringen. Du musst sie dazu bringen, dass sie voller Überzeugung sagt, dass Engel existieren! Du hast nur einen Erdentag Zeit, also streng dich an!", schloss der Erzengel.


    "Ich werde es schaffen, ich werde dich nicht enttäuschen, erhabener Erzengel, bestimmt nicht!", rief Chris begeistert. "Die Aufgabe ist schwieriger als du denkst!", meinte Eliah. "Und Chris, vergiss nicht, ich werde dich laufend beobachten und dem Erhabenen Bericht erstatten!", fügte Eliah noch hinzu. "Ich werde es schaffen! Ich weiß es!", sagte Chris voller Überzeugung. "Nun gut, dann stell dich vor mich und schließe deine Augen", meinte der Erzengel. Als Chris mit wild klopfendem Herzen vor ihm stand, fühlte er, wie sich seidig die Flügel des Erzengels um ihn schlossen. Ein unbeschreibliches Gefühl samtener Wärme durchflutete ihn.

  • Noch ganz im Rausch dieses wunderbares Gefühls, spürte er einen Augenblick später, wie er auf etwas ausrutschte. Er öffnete die Augen, sah gerade noch das nachdenkliche Mädchen und rutschte in Richtung Fluss. Er versuchte, sich irgendwo festzuhalten, aber er fand keinen einzigen Ast und fiel in den Fluss. "Hilfe, ich kann doch nicht schwimmen!", rief er voller Angst. Das Mädchen sprang auf, wunderte sich, woher denn plötzlich dieser Junge kam und sah, dass er im Fluss zu ertrinken drohte. "Hey, hab keine Angst, ich hole dich raus!", rief sie und sprang in den trotz Spätsommers recht kalten Fluss. Chris strampelte wie verrückt, klammerte sich an das Mädchen. Nach langem Kampf konnte sie ihn endlich herausziehen. Beide lagen völlig ermattet am Flussufer. "Du hast mich fast ertränkt, so wie du dich an mich geklammert hast, du dummer Junge!", rief das Mädchen ziemlich sauer. "Es tut mir leid, aber ich hatte solche Angst!", sagte Chris kleinlaut. "Wie alt bist du? So um die 12, hm? In dem Alter kann doch jeder schwimmen, Menschenskinder!", meinte das Mädchen. "Ich kann es nicht", sagte Chris leise. "Warum denn nicht? Sicherlich hattest du einfach Angst, schwimmen zu lernen, oder?" "Es wollte mir niemand beibringen!", antwortete Chris. Das Mädchen schüttelte nur den Kopf. "Ich muss nach Hause, um trockene Klamotten anzuziehen. Ich friere, geh du auch nach Hause! Tschüss!", sagte das Mädchen und ging los. Sie drehte sich noch einmal um. Der Junge saß mit gesenktem Kopf am Flussufer und rührte sich nicht. "Willst du denn nicht nach Hause gehen? Du musst doch frieren und brauchst trockene Kleidung!", meinte sie. Chris schüttelte den Kopf. "Ich friere nicht", sagte er nur. "Du frierst nicht? Und wo ist dein Zuhause?", wollte das Mädchen wissen. Chris schwieg. Sie ging zu ihm zurück und setzte sich wieder neben ihn. Irgendwie fühlte sie sich von dem Jungen magisch angezogen, konnte sich den Grund dafür nicht erklären. "Ich heiße Liv. Hast du kein Zuhause? Wo kommst du überhaupt so plötzlich her? Ich habe dich gar nicht kommen sehen", wollte Liv wissen. "Ich sah dich da so nachdenklich sitzen, wollte dich gerade ansprechen, als ich ausrutschte. Liv? Das ist ein schöner Name. Weißt du, was er bedeutet?", fragte Chris ausweichend. "Natürlich weiß ich es. Es heißt ‚lebe’. Also, wo ist dein Zuhause, wie heißt du und woher kommst du?", fragte Liv erneut. Chris druckste herum. Liv setzte sich dichter an ihn heran, betrachtete seine blonden Löckchen und schaute ihm in die Augen, die so voller Trauer waren, dass es ihr Herz berührte. Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken herunter. Seine blauen Augen schienen direkt in ihre Seele zu dringen. "Bist du abgehauen von zu Hause?", fragte sie. Er senkte den Blick. "Ich bin Chris. Ich habe kein Zuhause", sagte er. "Wieso? Jeder Mensch hat ein Zuhause!", sagte Liv. "Ich habe keines", erwiderte Chris traurig. "Du willst also hier hocken bleiben mit den nassen Klamotten, Chris?", fragte Liv und stupste ihn dabei sanft an die Schulter. Dabei spürte sie ein wundersames sanftes Kribbeln im ganzen Körper. "Wo sollte ich hingehen?", erwiderte Chris mit trauriger Stimme. "Na, dann komm mit mir, die Hosen von meinen Brüdern müssten dir passen!", forderte Liv ihn auf. Chris sah zu ihr auf. "Du willst mich mit zu dir nach Hause nehmen?", fragte er ungläubig. "Ja, warum denn nicht? Ich kann dich doch nicht hier so nass sitzen lassen. Also, komm!", meinte Liv. "Du bist ein liebes Mädchen", sagte Chris und ging mit ihr mit.
    Kurze Zeit später erreichten sie das Haus, in dem Liv lebte. "Es ist zur Zeit niemand da. Meine Eltern arbeiten, und meine Brüder toben auf irgendeinem Fußballfeld herum. Komm herein, ich hole dir trockene Sachen!", rief Liv. Chris ging währenddessen umher und sah sich um. Er gelangte in Livs Zimmer. Da sah er sie, die wunderschöne Sammlung von Engelsfiguren. Er betrachtete sie, ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. "Gefallen sie dir?", fragte Liv. "Ja sehr, sie sind wunderschön. Du magst Engel, nicht?", fragte er. "Ja, ich liebe Engel, aber...." Sie geriet ins Stocken. Wieder bekam sie dieses nachdenkliche Gesicht, das Chris aus dem Himmel gesehen hatte. "Aber?", fragte er. "Hier, zieh das an. Ich suche mir auch schnell trockene Sachen", meinte sie ausweichend. Chris verließ den Raum, zog sich um und wartete. Als Liv wieder aus ihrem Zimmer kam, fragte er erneut: "Aber was? Warum macht es dich traurig, wenn du an deine Engelsfiguren denkst?" Liv wusste nicht recht, was sie sagen sollte. "Du wirst mich sicherlich auslachen, wenn ich dir den Grund nenne", meinte sie schließlich. "Warum sollte ich das? Sag ihn mir ruhig", forderte Chris sie sanft auf und ging wieder zu den Figuren. Behutsam nahm er eine in die Hand und betrachtete sie liebevoll. Liv entging dies nicht. Verwundert beobachtete sie, wie der fremde Junge die Figur mit einem fast zärtlichen Blick ansah. Sie nahm sich ein Herz. "Na ja, weißt du, ich frage mich schon so lange, ob es wirklich Engel gibt, ob sie tatsächlich existieren. Jetzt wirst du mich bestimmt für dumm halten!", sagte sie argwöhnisch. "Nein, ganz und gar nicht. Warum sollte ich das tun?", fragte er und schaute ihr in die Augen. Wieder hatte Liv das Gefühl, er könnte direkt in ihre Seele sehen. "Glaubst du denn an Engel?", fragte sie. "Natürlich! Engel existieren und wachen über uns", sagte er mit fester Überzeugung. Nun war Liv aber überrascht. "Du sagst es so, als ob es die größte Selbstverständlichkeit wäre. Wieso bist du dir so sicher?", wollte sie wissen.
    Ein leichtes Donnern aus den Weiten des Himmels war zu hören. "Keine Sorge, Eliah, ich verrate nichts! Sie wird von selbst fest dran glauben!", dachte Chris, ein wenig befangen, da er nun wusste, dass er tatsächlich genau beobachtet wurde. "Es gibt Menschen, die Engel sind, so wie du vorhin mein rettender Engel warst, und es gibt die Himmelsengel, die für die Menschen sorgen. Es war so und wird immer so sein!", erwiderte Chris mit fester Stimme und stellte die Engelsfigur wieder an seinen Platz. Liv fühlte sich ganz sonderbar. Dieser Chris glaubte es wirklich. Sie strich der Figur, die er in der Hand hatte, nachdenklich über einen Flügel. Da sah sie, dass winzige Spuren von Goldstaub auf dem Flügel lagen. "Wo kommt denn der Goldstaub her?", rief sie verblüfft. "War er vorher denn noch nicht da?", fragte Chris. "Nein, eben nicht! Das ist ja merkwürdig. Na ja, wahrscheinlich haben meine Brüder irgendein Pulver dahingestreut. Sie machen sich nämlich manchmal lustig über meine Sammelleidenschaft", meinte Liv und ging in die Küche. "Hast du Hunger oder Durst?", fragte sie. "Nein, danke dir. Ich habe keinen Hunger und auch keinen Durst", erwiderte er. "Wirklich nicht? Du brauchst nicht so schüchtern zu sein, Chris", ermunterte sie ihn. "Wie alt bist du eigentlich? Ich bin 17!", sagte sie. Nach einigem Zögern – er musste erst einmal überlegen, wie alt er war, als er in den Himmel kam - antwortete Chris: "Ich bin 12 Jahre alt." "Magst etwas über dich erzählen? Ich mach mir ein Brot mit Marmelade. Wenn du auch etwas möchtest, sag Bescheid, ja? Setz dich doch. Hier in der Küche ist es gemütlich", lud sie ihn ein und öffnete ein Fenster. Lauwarme Spätsommerluft strömte herein. "Erzähl du lieber über dich, Liv", sagte Chris. "Du sprichst nicht gerne über dich, hm? Warum bist du so schüchtern und schaust immer so traurig aus?", fragte Liv. Chris zuckte mit den Schultern, sagte jedoch nichts.

  • Liv holte Brot, Brotmesser, Butter und Marmelade heraus. "Merkwürdiger Bursche, dieser Chris", dachte sie und schnitt, ganz in Gedanken versunken, auf dem Küchentisch eine Scheibe Brot ab. Dabei glitt ihr das Messer aus. Es traf Chris’ rechte Hand ziemlich heftig. "Oje, es tut mir leid! Ich habe dich geschnitten. Das wollte ich nicht!", rief sie entsetzt und rannte schnell zum Verbandskoffer, der immer in der Küche bereitstand. "Nein, es ist nichts geschehen. Mach dir keine Sorgen, du hast mich nicht verletzt", sagte Chris. "Doch, ich habe dich tief geschnitten, hab es doch genau gesehen!", rief Liv, den Tränen nahe und kramte in dem Verbandskoffer. "Nein, Liv, wirklich nicht. Schau, es ist alles gut!", versuchte Chris sie zu beruhigen. Liv ging zum Tisch zurück und schaute auf seine Hand. Sie war völlig unverletzt, nicht die Spur einer Wunde, nicht mal ein Kratzer war zu sehen. "Das gibt es doch gar nicht. Ich habe es doch deutlich gesehen!", rief sie. Tränen kullerten ihr aus den Augen. "Nein, Liv, es gibt keinen Grund zu weinen", sagte Chris und wischte ihr zärtlich die Tränen von den Wangen. Wieder fühlte Liv dieses wundersame, warme Gefühl. "Was geht hier vor? Ich verstehe das nicht!", schluchzte sie ganz verwirrt. "Es gibt viele Dinge, die wir nicht verstehen, aber sie geschehen dennoch. Liv, du kennst die Traurigkeit ebenso wie ich sie kenne, weißt du?", sagte Chris leise. "Du sprichst nicht wie ein 12-jähriger Junge. Du sprichst wie ein viel älterer Mensch. Und wieso wusstest du vorhin, dass ich traurig bin?", fragte Liv überrascht. "Ich habe deine Trauer ganz deutlich gespürt, so wie ich meine spüre", antwortete Chris. Liv schaute ihm lange in die blauen Augen. Er wich ihrem Blick nicht aus. Sie versank in seinen Augen, fühlte sich auf seltsame Weise beschützt in seiner Gegenwart, obwohl er doch erst ein 12-jähriger Junge war. Sie konnte sie einfach keinen Reim daraus machen. "Ablenkung, wir brauchen Ablenkung. Komm, lass uns in die Stadt runtergehen, heute ist Kirmes. Eigentlich wollte ich gar nicht hingehen, aber jetzt habe ich große Lust dazu", rief Liv und sprang auf.


    So gingen sie in die Stadt, die mit Menschen überfüllt war. Kinder tobten, es gab ein Riesenrad, Kinderkarussells, jede Menge Buden mit Süßigkeiten, ein Fakir demonstrierte seine Künste und vieles mehr. Liv schleppte Chris überall hin. Jedes Mal, wenn sie ihn fragte, ob er etwas naschen wollte, lehnte er dankend ab. Sie wunderte sich immer mehr. Das war doch alles nicht normal für einen 12-jährigen Jungen! Die Ablenkung tat ihr gut. Chris machte alles mit, aber sie sah ihn kein einziges Mal lachen. "Schöne Erinnerungsfotos in 5 Sekunden", rief jemand. "Au ja, lass uns ein Foto von uns machen!", rief Liv. Chris wollte nicht, aber Liv drängelte so sehr, dass er machtlos war. So machte der Gaukler ein Polaroidfoto von den beiden, zog es ab und betrachtete es argwöhnisch. Er kontrollierte seine Kamera. Sie war in Ordnung, aber das Foto nicht! "Was ist denn los?", fragte Liv den Mann. "Ich weiß nicht, anscheinend ist das Blitzlicht kaputt. Ich kann aber keinen Defekt feststellen!", antwortete er grübelnd. Liv schnappte sich das Foto. Sie selbst war deutlich und gut zu sehen, aber Chris war nicht auf dem Foto, stattdessen nur ein gleißend heller Fleck. Eine Gänsehaut jagte es ihr den Rücken herunter. "Schau mal Chris, das Foto! Wieso bist du nicht zu sehen?", fragte sie ihn. Eine leise Ahnung kam in ihr hoch, die sie aber wieder beiseite drängte. "Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Fotoapparat nicht in Ordnung?", meinte Chris. "Er soll noch eines machen!", rief Liv. "Nein Liv, komm, lass uns gehen. Dieser Ort mit den vielen Menschen ist so laut. Lass uns die Stille suchen", bat Chris. Liv sah ihn nachdenklich an. So spricht doch kein 12-jähriger Junge! Wieder kam die innere Ahnung in ihr hoch. "Ach, das kann ja nicht sein!", sagte sie sich und ging mit Chris zum anderen Ende der Kirmes, wo sich der Ausgang befand. Sie passierten gerade einen kleinen Streichelzoo, als ein Steinbock mit seinen Hörnern das Gatter aufspringen ließ. Kleine Lämmer, Hasen, und unzählige Tiere aus dem Zoo sprangen heraus und scharrten sich um Chris. Und, das verwunderte nun wirklich alle Menschen, die das staunend beobachteten, ein Reh ging auf Chris zu. Ein Reh, das scheueste Tier überhaupt! Es rieb sein Näschen an Chris’ rechter Hand. Er ging in die Hocke und streichelte liebevoll die Tiere, die ihn überall zärtlich berührten. Die Menschen hörten auf zu sprechen und schauten sich gerührt dieses Bild der Liebe an. Mitten auf der lauten Kirmes wurde es ganz still. Selbst die Marktschreier verstummten, das Riesenrad hielt an. Es war, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Diesen denkwürdigen Moment würde Liv in ihrem Leben niemals vergessen. Chris war so überwältigt von der Zärtlichkeit der Tiere, dass ihm Tränen der Rührung die Wangen hinunterliefen. Als sie zu Boden fielen, verwandelten sie sich in kurz leuchtende Funken und erloschen. "Ein Engel! Das ist ein Engel!", rief da ein kleines Kind und rannte zum ihm. Die Mutter schüttelte nur mit dem Kopf. "Doch, er ist ein Engel! Habt ihr denn nicht gesehen, wie seine Tränen sich in helles Leuchten verwandelten?", riefen jetzt auch andere Kinder aufgeregt und liefen zu Chris, der sie liebevoll umarmte. Er konnte die Tränen nach wie vor nicht zurückhalten, so dass in einem fort leuchtende Funken die Erde kurz berührten. Liv traute ihren Augen nicht. Ihre Ahnung war also richtig gewesen. Sie schlug sich weinend die Hände vorm Gesicht zusammen und rief: "Es gibt sie wirklich! Sie existieren, sie existieren!" Sie weinte vor unendlicher Freude.


    "Jetzt darfst du es ihr sagen und auch zeigen!", vernahm Chris die Stimme Eliahs. "Geht wieder in euren Zoo, damit die Menschen sich an euch erfreuen können", sagte Chris, woraufhin die Tiere brav ins Gatter zurückgingen. Alle hatten es gehört und sahen völlig verblüfft, wie die Tiere auf seine Worte hörten. Das Reh kam jedoch noch einmal zurück und knuffte mit seinem Köpfchen auffordernd an seiner Hand. Chris lächelte und streichelte es sanft über den ganzen Körper. Feiner Goldstaub rieselte dabei aus seinen Händen und bedeckte den ganzen Körper des Rehs. Ein Raunen ging durch die Menge. "So jetzt geh, Kleines", sagte Chris mit samtweicher Stimme zum Reh, dass nun auch brav in den Zoo zurückging. "Gehen wir, Liv?", fragte Chris. Liv nickte nur, sie war völlig überwältigt, wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war einfach nur glücklich, unsagbar glücklich.


    Sie passierten gerade die Straße, als Liv über einen Stein stolperte und hinfiel. Im gleichen Moment kam ihnen ein Lastwagen laut hupend entgegen. Er fuhr zu schnell, konnte nicht mehr bremsen. "Chris, um Himmels willen, der Lastwagen, er wird uns überfahren!", schrie Liv. Chris richtete sich auf und streckte ihm beide Arme entgegen, woraufhin er auf der Stelle anhielt. Verdutzt schaute der Fahrer auf die Straße. Wie war das möglich?
    Chris nahm Liv auf seine Arme und trug sie – leicht wie eine Feder - von der Straße fort bis zu ihr nach Hause. Dort angekommen fuhr er mit seiner rechten Hand über ihr blutendes Knie. Die Wunde schloss sich. Keine Spur war mehr von ihr zu sehen. Mit tränenverschleierten Augen sah Liv ihn an. "Du bist wahrhaftig ein Engel, ich habe es geahnt, schon eine Weile, aber jetzt weiß ich es. Du bist mein Schutzengel!", rief sie voller Freude. Ihr Herz quoll über vor so viel Glücksgefühl. Chris sah sie lächelnd an. "Ja, ich bin ein Engel. Und ich werde dein Schutzengel sein, immer über dich wachen, auf dich achten, kleine Liv! Ich werde nun wieder zurückkehren und mir meinen Engelsnamen auswählen!", sprach er immer noch lächelnd. "Oh wie schön, dich lachen zu sehen! Welchen Namen wirst du dir wählen?", rief Liv, ganz im Taumel ihrer überwältigenden Gefühle. "Da fragst du noch? Livius wird er sein!", rief Chris fröhlich und legte ihr sanft die Hände über die Stirn, fuhr ihr liebevoll über die Augen, die sich schlossen. Als Liv sie wieder öffnete, war er fort. Sie hörte ein Glöckchen klingeln und als sie eine Feder auf ihrer Hand sah, jubelte sie: "Er hat seine Flügel bekommen!"