Der traurige Engel
Chris saß traurig auf seiner Wolke 1, der untersten von allen. Seine innere Schwermut war so groß, dass sich etliche Wolken um ihn scharten, um ihn zu trösten. Immer wieder flogen andere Engel vorbei, sprachen ihm Mut zu, jedoch vergeblich. Mit den Flügeln zuckend zogen sie von dannen. Seine Tränen fielen auf die Wolken, wurden zu kleinen glitzernden Funken und erloschen. Engel Eliah sah sich das nun schon eine ganze Weile an. "Was können wir nur tun, damit Chris wieder die Freude in sich findet?", fragte er sich ratlos. Viele Engel hatten auf seiner Wolke 12 vorgesprochen und ihn gebeten, doch etwas für den traurigen Engel Chris zu tun. "Gib ihm endlich seine Flügel, einen Engelsnamen und den erleuchteten Blick zur Erde. Dann wird er glücklich sein!", rieten sie Eliah. "Aber das alles muss er sich erst verdienen! Und dafür ist er noch nicht lange genug hier", meinte Eliah zum wiederholten Male. "Dann geh zum erhabenen Erzengel Gabriel und bitte ihn noch mal um eine Chance für ihn! Siehst du denn seine Traurigkeit nicht? Uns anderen Engeln ist es auch schon ganz schwermütig ums Herz. Lass ihn ein Schutzengel sein und den Menschen zur Seite stehen! Wie soll er es sich verdienen, wenn ihr ihn nicht lasst?", insistierten sie. Eliah merkte schon, er musste etwas unternehmen. "Also gut, heute Nachmittag werde ich dem Erzengel einen Besuch abstatten. Vorher kann ich ihn nicht stören. Dann sehen wir weiter!" Die Engel dankten Eliah und flogen hoffnungsvoll zu ihren Wolken.
Erzengel Gabriel sortierte gerade kopfschüttelnd die Neuzugänge, als Eliah ehrfürchtig eintrat. "Was gibt es? Ich habe viel zu tun!" "Bitte entschuldige, dass ich deine holde Ruhe störe, mein Erzengel. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Die tiefe Traurigkeit von Chris will einfach nicht aufhören. Er versetzt bereits die anderen Engel in Schwermut. Der Himmel trauert. Wir müssen etwas unternehmen. Mein Erzengel, ich weiß, eigentlich ist es noch zu früh, aber bitte, hab ein Einsehen und gib ihm eine Chance, sich zu bewähren, damit er endlich wieder fröhlich sein kann! Bedenke, dass er ein schweres Erdenleben hatte", bat Eliah eindringlich. Der Erzengel runzelte seine Stirn und grübelte so heftig, dass ihm fast der Heiligenschein verrutschte. Nach einer Weile meinte er: "Also gut, bring ihn zu mir. Dann sehen wir weiter. In der Zwischenzeit warte ich auf eine Eingebung." "Oh, ich danke dir, mein Erzengel, ich hole ihn sogleich!", rief Eliah und verließ andächtig den geweihten Raum.
Chris saß unterdessen auf seiner Wolke 1 und hing seinen kummervollen Gedanken nach. Da hörte er von weit oben die Stimme Eliahs, er möge zu ihm kommen. Verwundert lief er die Wolkenstufen hinauf. Als er vor Wolke 12 stand, klopfte er zaghaft an die Wolkentür. "Komm herein!", sagte Eliah.
Als Chris vor Eliah stand, sprach dieser: "Wir gehen jetzt gemeinsam zum Erzengel. Viele Engel haben für dich gesprochen, musst du wissen. Sie trauern mit dir und baten um eine Chance der Bewährung für dich. Der Erzengel wartet auf eine Eingebung, wie dir diese gegeben werden kann. Und, Chris, du weißt, dass du dem Erzengel mit entsprechender Ehrfurcht zu begegnen hast, hörst du?", sagte Eliah eindringlich. Chris nickte. "Ja, Engel Eliah, ich werde mich richtig verhalten, ich verspreche es!"
So stiegen sie die vielen Wolkenstufen bis zur Wolke 71 hinauf. Chris musste sich ziemlich anstrengen, es war ein weiter Weg. Es kam ihm vor, als ob sie direkt in die obersten Wolken des Himmels stiegen. Eliah hingegen hatte es leicht, er konnte ja fliegen. Als sie endlich vor der goldenen Wolkentüre 71 standen, ließ Eliah Chris erst einmal wieder zu Atem kommen. "Wir treten nun ein. Denk an dein Versprechen!", ermahnte ihn Eliah und klopfte an die goldene Wolkentür. Als er ein "Herein" hörte, traten beide ein.
Chris traute seinen Augen nicht. Zum ersten Mal durfte er den Erzengel sehen. Er musste sich zuerst die Augen schützen, so gleißend hell leuchtete er. Sein Heiligenschein glänzte goldfarben. Chris war völlig verzaubert. Er stand da wie angewurzelt von diesem himmlischen Anblick. "Eine Lichtgestalt aus einer anderen Welt, welch ein wunderbares Wesen!", dachte er begeistert. Eliah zog ihn schließlich mit sich zum Schreibtisch des Erzengels. "So, du bist also der Chris, der den Himmel in eine Trauerweide verwandelt?", fragte ihn Erzengel Gabriel. "Ja, ich bin Chris, erhabener Erzengel", antwortete Chris kleinlaut. Er fühlte sich winzig wie ein Staubkorn in Gegenwart des Leuchtenden. "Warum bist du so traurig und findest keinen Frieden hier?", fragte Gabriel ihn prüfend. "Oh, erhabener Erzengel, es tut mir so leid, ich möchte die anderen Engel nicht traurig machen, aber es ist einfach stärker als ich. Ich versuche dagegen anzukämpfen, glaube mir. Ich möchte so gerne fröhlich sein. Es mag mir einfach nicht gelingen, ich weiß doch selber nicht, wie ich es ändern kann. Ich habe wohl auch noch keine Chance verdient. Jeder andere hat sie mehr verdient als ich. Was habe ich schon getan. Nein, ich habe sie nicht verdient", sagte Chris leise.
Der Erzengel erhob sich und ging auf und ab. Hinter jedem seiner Schritte hinterließ er eine Spur aus Goldstaub. Chris konnte sich gar nicht sattsehen an seiner Gestalt. Schließlich, es erschien Chris wie eine Ewigkeit, sprach der Erzengel: "Ich sehe, du meinst es ehrlich. Ich bekam in der Tat eine Eingebung, was dich betrifft. Ich hätte keine Eingebung bekommen, wenn es nicht hätte sein sollen. Komm einmal her, auch du Eliah", forderte er beide auf. Ehrfürchtig ging Chris zum Erzengel. Je näher er ihm kam, umso kleiner fühlte er sich. Als Eliah und Chris zu beiden Seiten Gabriels standen, sagte dieser: "Chris, du wirst nun für einen kurzen Moment den erleuchteten Blick erhalten, um auf die Erde zu blicken. Dort wirst du deine Aufgabe sehen!" Der Erzengel berührte Chris mit seinem rechten Flügel an der Schulter, woraufhin es Chris ganz wundersam zumute wurde. Ein unglaubliches Gefühl der engelhaften Leichtigkeit füllte ihn ganz und gar. "Und nun schaut!", sagte Gabriel. Die Wolken wichen beiseite, die Erde erschien Chris so nah, als ob er einen Meter über ihr schweben würde. "Beschreibe, was du siehst, Chris!", forderte der Erzengel ihn auf. "Dort sitzt ein junges Mädchen allein an einem Fluss. Sie schaut nachdenklich und ein wenig traurig aus", erwiderte Chris. Eliah berührte Chris mit seinem linken Flügel. "Was denkt sie?", fragte er. Auf einmal hörte Chris ihre Gedanken ganz klar und deutlich. Völlig verblüfft stotterte er: "Sie fragt sich, ob es wirklich Engel gibt. Sie liebt Engel, sammelt Engelfiguren mit großer Leidenschaft, aber quält sich schon lange mit der Frage, ob Engel wirklich existieren."
Der Erzengel berührte Chris wieder mit seinem rechten Flügel. Traurig nahm Chris wahr, dass der erleuchtete Blick verschwand. Es war zu schön gewesen, auf die Erde zu schauen. "So ist es, Chris, sie ist traurig, weil ihr niemand diese Frage beantworten kann. Nun, hier ist deine Aufgabe und Chance, Engelsflügel zu erhalten, die, wenn du sie dir verdient hast, den erleuchteten Blick von deiner Wolke aus zu jeder Zeit ermöglichen, um als Schutzengel wirken zu können. Selbstverständlich nur, wenn du deine Aufgabe zu unserer Zufriedenheit ausgeführt hast. Ich werde dich auf die Erde senden. Du wirst Kontakt zu diesem Mädchen aufnehmen, wie, das ist deine Angelegenheit. Deine Aufgabe besteht darin, sie davon zu überzeugen, dass Engel existieren. Du darfst jedoch nicht mit einem Wort erwähnen, dass du ein Engel bist, auch darfst du keine Wunder vollbringen. Du musst sie dazu bringen, dass sie voller Überzeugung sagt, dass Engel existieren! Du hast nur einen Erdentag Zeit, also streng dich an!", schloss der Erzengel.
"Ich werde es schaffen, ich werde dich nicht enttäuschen, erhabener Erzengel, bestimmt nicht!", rief Chris begeistert. "Die Aufgabe ist schwieriger als du denkst!", meinte Eliah. "Und Chris, vergiss nicht, ich werde dich laufend beobachten und dem Erhabenen Bericht erstatten!", fügte Eliah noch hinzu. "Ich werde es schaffen! Ich weiß es!", sagte Chris voller Überzeugung. "Nun gut, dann stell dich vor mich und schließe deine Augen", meinte der Erzengel. Als Chris mit wild klopfendem Herzen vor ihm stand, fühlte er, wie sich seidig die Flügel des Erzengels um ihn schlossen. Ein unbeschreibliches Gefühl samtener Wärme durchflutete ihn.