Mit dem Rücken zur Wand: YCS-Finale Bochum

Hallo liebe eTCG-Gemeinde,


nachdem bei meinem letzten Artikel vermehrt der Vorwurf aufkam, das Beispiel sei zu alt und daher ungeschickt gewählt, schreibe ich heute über eine etwas aktuellere Situation, um genauer zu sein aus diesem Format.

Es geht um Michel Grüners Finale auf der YCS Bochum gegen Eden Zamir. Ich bin sicher, dass viele von euch das Spiel gesehen oder gelesen haben werden, und eins der unbestrittenen Highlights war Michels grandioser Read auf Edens Mirror Force. Da man Reads aber nunmal leider schwer rational begründen kann (man hat sie halt, oder eben nicht) möchte ich an dieser Stelle auf einen anderen Zug aus dem Spiel eingehen, der mir besonders aufgefallen ist.

Gleich vorweg: Viele von euch werden vermutlich sagen „Der war gar nicht so gut, das hätte ich auch so gespielt, wo ist denn da das Besondere“. Das Besondere war, dass es das Finale einer YCS mit mehr als 1000 Leuten im Rücken war, die jeden deiner Züge genau beobachten und analysieren, ganz zu schweigen vom eh schon vorhandenen Druck und Nervosität.

Des Weiteren ist dieser Zug zwar nicht außergewöhnlich komplex oder unendlich gut berechnet oder vorausgedacht, aber er illustriert sehr schön Michels Spielverständnis in vielerlei Hinsicht.


Die Situation ist folgende:

Eden hat Royal Decree offen, einen Stardust Dragon offen auf dem Feld, und einen verdeckten Caius, der durch Michels Book of Moon facedown gegangen ist. Ich weiß nicht genau, was Michel auf der Hand hatte, aber sein Zug steht in der Coverage und ist somit für alle nochmal nachzulesen:

Er aktiviert Monster Reborn auf Emmersblade, und während die meisten Spieler damit vermutlich einfach den Caius überlaufen hätten (oder den Emmersblade sogar in Verteidigungsposition beschworen hätten), hat Michel etwas anderes vor:


Er schickt seinen Emmersblade in den Stardust, beschwört dann mit seinem Effekt Fulhelmknight aus seinem Deck, greift DANN erst den Caius an, beschwört durch Fulhelmknights Effekt seinen Emmersblade ein weiteres Mal vom Friedhof, läuft damit NOCHMAL in den Stardust, beschwört einen Darksoul, synchronisiert zu Brionac und wirft ein (durch Decree totes) Solemn Warning ab, um den Stardust zu entsorgen UND sucht sich in der Endphase noch ein Monster für Darksouls Effekt.

Er hat also aus einer durchaus bedrohlichen Feldsituation einen Kartenvorteil von +2 gemacht (streng genommen +1, weil sein Book of Moon vorher -1 gemacht hat) und seinerseits eine bedrohliche Situation für seinen Gegner geschaffen, der nun einem Brionac gegenübersteht und sich durch sein eigenes Decree nicht wirklich vor ihm schützen kann. Und gerade gegen ein Deck wie X-Saber, was sehr schnell sehr viele Monster aufs Feld bringt, kann das schnell das Aus sein.


Was macht aber Michels Zug so gut?

Zum einen hat er die Synergien und Möglichkeiten seines Decks vollkommen durchdrungen und verinnerlicht. Während die meisten Spieler Emmersblade nur als ein Monster sehen, was einen Angriff abfängt und dann ein Monster (meistens Darksoul) aus der X-Saber Toolbox sucht, oder maximal noch als einen Beatstick der sich gegebenenfalls selbst ersetzt, falls er überrannt wird, weiß Michel dass Emmersblade auch offensiv Zugriff auf den X-Saber bedeutet, der gerade gebraucht wird, vorausgesetzt der Gegner hat ein ausreichend starkes Monster auf dem Feld. Er weiß außerdem, welchen Schaden Fulhelmknight in dieser Situation anrichten kann, wenn man ihn richtig einsetzt. Er hat erkannt, dass in dieser Situation, in der die meisten Spieler vermutlich versucht hätten, sich zu verteidigen, Angriff die beste Verteidigung war, und er hat den optimalen Angriff gefunden.


Auf der anderen Seite zeigt dieser Zug auch, dass Michel die Prioritäten der Ressourcen in Yu-Gi-Oh verstanden hat. Viele Spieler hätten einen solchen Zug vermutlich nicht gemacht, weil sie – bewusst oder unbewusst – der hohe Verlust an Lifepoints abgeschreckt hätte. Die meisten haben eben immer noch im Kopf, dass Lifepoint das wichtigste in dem Spiel sind, dabei ist das Gegenteil der Fall: Lifepoints sind eine der unwichtigsten Ressourcen. Im Prinzip gibt es nur 2 Stufen der Lifepoints: Mehr als 0 (ich lebe noch) und 0 (ich bin tot). Dazwischen noch mehr oder weniger wichtige Zwischenstufen wie „wie viele Solemn Warning kann ich noch bezahlen“ oder „überlebe ich einen Angriff von [häufig gespieltes Monster im gegnerischen Deck]?“


In diesem Fall tauscht Michel 2400 LP gegen 2 Karten Vorteil und eine gewaltig auf den Kopf gestellte Feldsituation, das ist meiner Meinung nach mehr als fair. Oder anders ausgedrückt: Es ist lächerlich wenig.


Dieser Zug war keiner dieser auffälligen „guten Züge“, deren Genialität einen wie ein Schlag trifft. Er war relativ subtil und doch ein gutes Beispiel für großartiges und vor allem extrem verinnerlichtes Spielverständnis.


Und genau das macht einen guten Spieler aus. Die meisten von euch könnten hier wahrscheinlich einen Artikel über einen guten Zug schreiben, den sie mal gemacht haben. Die meisten Spieler machen früher oder später gute Züge, einige mit Absicht, andere aus Zufall, wieder andere machen einen schlechten Zug, der im Nachhinein gut wird.

Aber ein guter Spieler macht in jeder Situation, egal wie klein und unwichtig sie erscheinen mag, einen vielleicht nur minimal besseren Zug als ein normaler Spieler, und in der Summe kann sich das - wie in Michels Fall - zum Gewinn einer YCS aufaddieren. Und genau das sollte der heutige Artikel veranschaulichen: Es gibt wenige überkrasse Gamebreaker-Züge, wo ein guter Spieler seine ganze Genialität zeigen kann, die meisten Spiele (und Turniere) werden über kleine Züge gewonnen, Schritt für Schritt. Mal +1 hier, mal ein Book of Moon ein klein bisschen besser eingesetzt da.


Es ist ähnlich wie beim Fußball: Natürlich sieht ein Fallrückziehertor spektakulär aus (und wird auch fast immer Tor des Monats), und es ist für jeden Spieler cool, mal eins zu schießen.

Aber 50% der Tore beim Fußball entstehen (direkt oder indirekt) aus Standardsituationen. Es ist also für eine Mannschaft erheblich wichtiger, gute Freistoßschützen zu haben, als jemanden, der wunderbare Fallrückzieher kann, auch wenn Freistöße meistens lange nicht so cool sind.

Und genau so ist es bei Yugi auch: Die meisten Spiele gewinnt man über Standardsituationen, die man ein klein bisschen besser kann als der andere. Oder weil man Synergien in seinem Deck ein bisschen besser verstanden hat. Oder weil man sich das ganze Match über konzentriert und nicht nur, wenn alles auf dem Spiel steht.


Es kann sich also in jeder Situation lohnen, ein wenig länger nachzudenken als sonst. Probiert es aus, glaubt mir, es lohnt sich ;)


Antworten 16

  • Schöner Artikel, der zeigt, was der Unterschied zwischen z.B. einem One-Hit und einem konstant guten Spieler ist und es nicht zwangsläufig mit cheaten zu tun hat.
    Daumen hoch.

  • Ich betone erneut, ich mag deinen schreibstil ;)
    macht spaß und tadaa, ist der artikel schon zu ende ;)
    weiter so,
    lg Umut




    PS:
    "Es kann sich also in jeder Situation lohnen, ein wenig länger
    nachzudenken als sonst. Probiert es aus, glaubt mir, es lohnt sich ;)"
    liest sich so, als ob du nachdenkende spieler, wie michel oder mich, die bisl, ganz kleines bisl länger, nachdenken um das optimale aus dem was man machen kann, rauszuholen, ohne auf luck zu hoffen, welches eh nie kommt...hmm, als ob du die spielart doch akzeptierst ;)
    ich kenn dich eigetlich als jemand der am liebsten in 3 zügen gewinnen/verlieren möchte ;) (also speedy)

  • Nichts gegen Michel oder gegen dich und ich will auch Michel's Leistung oder sein Können nicht angreifen, aber...


    Den Spielzug so zu hypen find ich ein bisschen übertrieben, weil...


    Er muss für diesen Spielzug nur wissen, dass er noch einen Fulhelm im Deck, eine Darksoul im Deck, einen Brionac im Extra-Deck hat und eine in dieser Situation natürlich "nutzlose" Karte (kenne die Situation nich mehr so genau, deswegen weiß ich nich, ob es was gebracht hätte noch das Decree in Main 2 auf die Hand zu geben und das Warning zu setten) abwerfen...


    Ist deswegen in meinen Augen eher ein Standard-Zug...deswegen ist der übertriebene Hype unberechtigt.


    Trotzdem schöner Artikel und weiter so...




    mfG AirknightPee

  • wieder ein guter artikel christoph ich bin beeindruckt (;


    ich habe die geschilderte situation live miterlebt und weiss noch wie viel begeisterung üebr diesen zug von den zuschauern aufgebracht wurde und ich war im ersten moment auch beeindruckt von dem zug, diese option hätten sicher einige spieler übersehen


    ansonsten ähnlich wie letztes mal ein guter artikel nur diesemal lobst du michel anstatt dich selbst (;
    ist aber bei dieser art von artikel unvermeidlich und von daher ok


    eine sache hätte ich aber noch:
    der vergleich mit dem fussball ist absoluter mist, da der vergleich standardtor/fallrückziehertor zu der spielsituatuin völliger quatsch ist, da unterm strich es eben ein tor ist (in yugisprache +1) egal wie es gemacht wurde


    folgenden vergleich würde ich vorziehen


    man vergleiche barcelona und inter mailand in der championsleague letztes jahr, während barcelona "hurra" fussball celebrierte und weltklasse mannschaften mit 3 toren differenz abschoss, taktierte sich inter mailand mit 1:0, oder 0:0 durch die runden
    am ende standen sihc die beiden mannschaften gegenüber und inter gewann am ende, also hat barcelona vllt mehr sensationsspiele gemacht aber inter war unterm strich konstanter (und das jetzt mit der yugi situation vergleichen)
    ich denke so ein beispiel wäre wesentlich besser gewählt gewesen (;


    Grüsse Return


  • Ich behaupte mal, dass der Otto-Normal-Spieler diesen Spielzug einfach übersehen hätte. Es war ein komplexer Spielzug den halt nicht jeder auf den ersten Anhieb sieht (es gab ja mehr Targets für Reborn ... ).


    Ich stimme aber auch zu, dass einige Faktoren noch fehlten wie z.B. die Handkartenanzahl von Michel, seine Lebenspunkte und alle Monster in beiden Friedhöfen.

  • Hi, auch ich war in bochum und hab das ganze beobachtet, war zwar nicht in den tops, aber keiner der gegner die an dem wochenende x-saber spielten, haben konstent so gute züge gespielt wie der michel, der hatte es einfach verdient gehabt dort oben zu stehen.
    der zug ist nicht gehyped, es war ein sehr guter zug, die meisten modernen spieler kennen sowas gar nicht, weil sie karten wie riesenratte oder muttergrizzly nicht mehr wirklich kennen, denke viele spieler haben beim verfolgen des finals gedacht. hey, so hätte ich das ja auch mal machen können!
    und das stellt der artikel dar, es geht nicht darum zu cheaten oder sonst was, es geht um spielverständnis und verständnis des eigenen decks und seiner synergien, nicht um die "how to play" vids auf youtube ;)


    lg

  • Super Artikel der sich wunderbar liest und einmal mehr hat Michel gezeigt was für ein guter spieler er ist der aus einer, für manchen spieler aussichtslosen feldsituation, dass beste macht.
    Es war ein super Final spiel das man sich gern angesehen hat.


    gruß
    Yugi

  • und zu diesem spielverständnis kommt man, in dem man sich spiele anschaut, viele verschiedene szenarien mal selber gehabt oder getestet hat und einfach viel praktische übung, in der theorie ist das sicher alles einfach, aber wenn man dann mal an den top tables sitzt, dann entscheidet ebenso immernoch der skill...oder dummheit^^

  • ...
    oder, die Alternative: Man baut sein Deck selber und läuft etliche Tests durch. Meine Erfahrung ist, dass man dann auf deutlich mehr Synergien stößt, die die meisten Spieler (aka Netdecker) einfach nicht entdecken.


    Die Artikel sind leider immer etwas kurz und naja, sie beschreiben einfach nur, was ich etwas Schade finde^^"
    Man könnte etwas mehr draus machen, in dem man auf weitere Optionen eingeht (Bspw, wäre ein Goyo da nicht besser gewesen?! WAr er überhaupt noch imm Extra? Etc etc etc)..
    Und naja, die Lobeshymnen sind wohl unausweichlich xD
    Wobei ich gestehen muss, der Kommentar von oben gefällt mir - als alter Zombie-Spieler kennt man auch diesen Dreh,aber luegt wohl daran, dass man mehr Editionen und mehr verschiedene Spielstile mitgemacht hat, so dass man das wirklich versteht^^"

  • Irgendwie finde ich, dass sich dein Schreibstil verbessert hat. Gefällt mir gut weiter so.




    yomifrog

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