So, ich bin schon seit einiger Zeit immer gerne auf eTCG unterwegs und egal ob man mir das glaubt, oder nicht, ich mag die Community. Dementsprechend gibt es hier nun eine meiner Kurzgeschichten, oder eher eine Reihe Kurzgeschichten mit offenem Ende zu lesen. Achtung, es hat absolut nichts mit Yugi zu tun. Ich wollte es nur gerne hier teilen um Kritik zu erhalten und vielleicht dem einen oder anderen eine Geschichte zu geben, die er gerne liest.
Also zur Geschichte:
Ich möchte zum einen eine Altersbeschränkung von 12 Jahren voranstellen, da es sowohl an einigen Stellen zu Gewaltdarstellungen und etwas herberer Sprache kommen wird/kann.
Und zum anderen eine kleine Beschreibung des Settings: Die Handlung beginnt zu Anfang eines neuen Schuljahres an einem Internat für Esper, Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Besonders an diesem Internat ist, dass es seit einigen Jahren auch normale Menschen aufnimmt, um herauszufinden, was sie von den Espern unterscheidet. Einer dieser normalen Menschen ist Ben, der Protagonist der Geschichten, der bis zuletzt hofft, dass der Schulalltag nicht zu ungewöhnlich wird. Er ist doch nur ein ganz normaler Junge...
„Hey! Bleib mal kurz stehen!“, sagte eine Mädchenstimme, als ich aus dem Bus ausstieg und ich wandte mich widerstrebend von dem Anblick der Schule, meiner neuen Heimat ab. Der Bus war auf dem so genannten Osthof vorgefahren und wir konnten die Unterkünfte und die Kantine sehen. Woher ich das weiß? Im Bus lag ein kleiner Plan und die Fahrt war ziemlich lang gewesen.
„Hey. Jetzt guck mich schon an!“, befahl das Mädchen ein klein wenig ungeduldig.
Ich tat ihr den Gefallen und schreckte etwas zurück. Sie hatte schneeweiße Augen, keine Pupille, keine Iris. Dann begann mein ganzer Körper zu brennen und sie drehte sich ruckartig um.
„Wir sehen uns.“
Es blitzte auf und ich musste meine Augen, wegen dem grellen Licht, schließen. Als ich zusammen mit allen Anderen aus dem Bus wieder auf den Punkt sah wo das Mädchen gestanden hatte, war es verschwunden.
„Gut. Steht bitte alle auf. Ihr könnt euch setzen, sobald ich euren Namen vorgelesen habe.“
Die gesamte Klasse steht auf. Da ist er also. Mein erster Schultag an der weiterführenden Schule. Ein Name nach dem anderen fällt. Ich warte auf das „Ben Connor“ und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Der Raum sieht gut aus. Irgendwie besser als erwartet.
„Wunderbar. Ihr alle habt die Chance erhalten aus eurem alten Leben auszubrechen und hier einen Neuanfang zu starten. Ich weiß, dass manche Esper es nicht befürworten, dass wir Rang E-Schüler aufnehmen, aber ihr werdet hier sicherlich eine schöne Zeit haben“, meint der namenlose und etwas blasse Kerl an der Tafel.
Ich weiß, dass es einen Krieg gab, dass sich die Welt an einem Tag vollkommen wandelte. Ich weiß, dass viele Menschen starben und, dass der Krieg etwas hervorbrachte, mit dem nie jemand gerechnet hätte: Die Esper. Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, Menschen, deren Macht alles übersteigt, was man sich bis dahin vorstellen konnte. Ich weiß auch, dass vor ungefähr zwanzig Jahren eine Hungersnot ausbrach, die beinahe die ganze Welt erfasste und einen neuen Krieg heraufbeschwor: Den Krieg um Ressourcen. Doch hier hört mein Wissen auch schon auf. Ich habe keine Ahnung, was genau in der Welt passiert, weil der Fernseher meiner Eltern schon vor Jahren kaputt gegangen ist und sie es für Verschwendung hielten sich einen Neuen zu kaufen, weil ich nicht zur Schule gehen kann. Es ist nämlich so, dass in einer Gesellschaft der Esper, in der jeder zweite Mensch über grandiose Fähigkeiten verfügt, die normalen unter den Tisch fallen. Als die Hungersnot langsam zu einem globalen Problem wurde, führte man ein Rangsystem ein. Dieses Rangsystem sollte dafür sorgen, dass die Menschheit bessere Chancen hatte zu überleben. Also wurde man nach der Stärke seiner Fähigkeiten bewertet.
Das System geht von A bis E. Alle Menschen von A bis D besitzen Fähigkeiten, oder Veranlagungen. Einzig die Menschen aus Rang-E sind normale Menschen, auch, wenn wir – zusammen mit den Menschen von Rang-D – immer noch die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.
Es ist ein unglaublicher Glücksfall, dass ich jetzt auf diese Schule gehen darf. Sie setzt sich für mehr Rechte des E-Ranges ein und nimmt auch solche als Schüler auf, die sonst gar keinen Unterricht erhalten würden, um zu beweisen, dass auch sie Fähigkeiten entwickeln können. Sie forschen hier am genauen Ursprung der Kräfte der Esper.
Eines Tages kam ein Kerl im Anzug an und teilte mir allen Ernstes mit, ich sei aufgenommen. Einfach so. Er meinte es sei ein Losverfahren oder etwas in der Art.
Was soll ich sagen. Meine Mutter bekam beinahe einen Herzinfarkt und gab beinahe all unser Geld aus, um mir Kleidung und Materialien für die Schule zu kaufen. Und naja... Jetzt bin ich hier.
Der Kerl an der Tafel geht gerade den Plan für das erste Semester durch:
Geschichte
Mathematik
Englisch
Naturwissenschaften
Esperkunde
Sport
Einige Tests zu unseren – nicht vorhandenen – Fähigkeiten
Da wir kein Fähigkeiten bezogenes Training haben, werden wir in diesen Stunden Geschichts und Mathematik Unterricht haben.
Ich versuche wirklich aufzupassen, aber die Begeisterung, die ich hatte, als ich heute früh morgens in den Bus stieg, der mich für ein Jahr von zu Hause weg holte, war schnell verflogen. Schon als die alten und häufig verlassenen Plattenbauten an uns vorbeizogen, hatte ich das Gefühl, dass hier die Vorfreude die schönste Freude gewesen war, da sich jetzt fiese Zweifel einschlichen, die Freude umkreisten und darauf warteten, dass sie die Deckung sinken ließ, wie Hyänen bei einem sterbenden Tier.
Klar, als wir ankamen war ich erst einmal extrem gespannt und bekam vor Staunen kaum den Mund zu, vor allem, nachdem dieses komische Mädchen weg war.
Die großen, sauberen Schulgebäude, der riesige, ausladende Baum auf dem Osthof, das war wirklich beeindruckend. Aber kaum drehte man sich nach links, sah man schon, was uns, die Außenseiter erwartete. Ein kleines, altes Gebäude, das ein wenig eingequetscht zwischen einer großen weißen Unterkunft und dem Torbogen steht, durch den unser Bus auf den Osthof gefahren ist. Vielleicht wollte man es mal renovieren, aber das war dann wohl doch zu teuer gewesen, oder etwas in der Art. Ich frage mich gerade, wieso es hier überhaupt ein so heruntergekommenes Gebäude gibt. Will man uns unter die Nase reiben, dass wir hier eigentlich nicht erwünscht sind?
Unsere Taschen durften wir im Bus lassen, sie wurden offensichtlich auf unsere Zimmer gebracht und dann ging es quer über den Osthof, über den Westhof, auf dem einige Mädchen Tennis spielten und in das Unterrichtsgebäude. Dort wurden wir dann natürlich in den hinterletzten Raum geführt, aber wie gesagt: Die Vorfreude schien das Schönste gewesen zu sein, auch wenn ich immer noch eine gewisse Wärme in mir spürte, eine Freude darüber etwas Neues, etwas so Besonderes, erleben zu dürfen. Natürlich hatte ich erwartet, oder eher gehofft, dass sich für mich alles ändern würde, aber nur, weil die Schule den Rang-E unterstützt, wird er hier wohl nicht automatisch hoch geschätzt.
Nach heute nur zwei Stunden Unterricht, verlassen wir das Gebäude und sehen die anderen Schüler auf den Schulhöfen. Gerade auf dem Westhof ist sehr viel los, viele Schüler laufen, oder spielen Tennis und Volleyball. Ich habe allerdings keine Gelegenheit, es mir genauer zu besehen, oder gar mitzumachen, da der namelose Lehrer uns direkt zu unserer Unterkunft führt.
Was soll man sagen, sie sieht immer noch genauso aus, wie vorher.
Meine Klasse, die 1-E besteht aus zehn Jungen und vierzehn Mädchen. Wir alle sehen unterschiedlich verwahrlost, aber keiner wirklich gut aus. Ob die Schule das wohl ändern wird? Die Meisten hier sind abgemagert und ich gehöre zu den Wenigen, die neue Klamotten tragen. Wir sind wirklich ein trauriger Haufen, aber wer weiß, was bis Ende des Jahres alles passieren kann. Kurz muss ich schmunzeln. Hoffnung. Das ist das schönste Geschenk hier.
Jetzt, da wir ein wenig näher dran sind, sieht man, dass die Unterkunft doch in einem etwas besseren Zustand ist, als ich zuerst annahm. Klar, an ein paar Ecken bröckelt der Putz ab, aber die Fenster sehen dicht aus und ich würde meine erste Mahlzeit hier darauf verwetten, dass es eine Heizung gibt.
Der Lehrer führt uns hinein. Im Flur schält sich ein wenig die Tapete von den Wänden, aber er ist ordentlich beleuchtet und die Zimmertüren, die zu den Seiten abgehen, haben sogar Schlösser. Am Ende des Flures sind die Zimmer der 1-E und der Lehrer teilt uns auf. Die Mädchen haben drei Zimmer, wir zwei. Die Bäder sind einfach nur nach Geschlechtern geteilt. Mein Koffer liegt schon in dem Zimmer, das ich mir mit David, Hans, Erik und Michel teile.
Im Zimmer gibt es zwei Etagenbetten und ein Einzelbett, welches direkt neben der Heizung und unter dem Fenster steht und das sich sofort der Größte und Stärkste sichert: Erik. Der Lehrer ruft uns nach wenigen Minuten wieder auf den Flur und erklärt uns, wo wir zum Mittag und Abendessen hingehen sollen. Eine Führung gibt es morgen. Heute ist noch einmal ein komplett freier Tag, damit wir ein wenig das Gelände erkunden, Leute kennen lernen – Ha. Ha. – und uns einrichten können. Nachdem er uns das gesagt hat, geht er tatsächlich und überlässt uns uns selbst.
„Hey Leute! Ich hab gehört, dass die hier echt Schwimmbecken haben“, beginnt David, ein kleiner etwas untersetzter Junge, sobald wir wieder in unserem Zimmer sind.
„Du glaubst auch alles, oder? Wer soll dir das denn erzählt haben?“, erwidert Erik spöttisch und räumt den Inhalt seines Koffers in einen der kleinen Schränke.
Ich tue es ihm nach, so viel habe ich ja schließlich nicht mitgebracht.
„Ein Mädchen. Keine Ahnung wie sie heißt. Sie saß in der Klasse neben mir und hat gesagt, dass sie durch die Büsche auf dem Westhof geguckt hat“, insistiert David und kramt in seiner Tasche, vermutlich nach seiner Badehose.
„Wieso sollten wir da an den Pool gehen? Die wollen uns doch eh nicht haben!“, mischt sich Michel gereizt von seinem Bett aus ein.
„Frag doch lieber, warum wir dahin wollen. Wann hast du das letzte Mal einen Rang-A Esper gesehen, der im Umgang mit seiner Gabe trainiert wurde?“, fragt David zurück und zieht seine Badehose aus der Tasche.
„Er hat schon irgendwie Recht... Und wir gehen hier ja zur Schule...“, wirft Hans nachdenklich ein und beginnt ebenfalls in seiner Tasche zu kramen.
Klar. Das mit den Espern ist das Totschlagargument schlechthin. Niemand hier kann es abwarten einmal zu sehen wovon jeder Mensch träumen muss. Ein Rang A zu sein.
„Ihr habt beide Recht. Lasst uns einfach hingehen“, mische nun auch ich mich ein und fische meine Hose aus dem fertig eingeräumten Schrank.
Kurz nach mir schnappt sich auch Erik seine und wir alle gucken Michel an, der den Kopf schüttelt und uns wütend ansieht.
„Ach haut doch ab!“
Wir tun ihm den Gefallen.
„Der hat aber so was von keine Badehose“, meint David, als wir auf dem Flur sind.
„Oder er hat echt keine Lust...“, gibt Hans zu bedenken.
„Keine Badehose“, geben Erik und ich beinahe zugleich zurück und wir alle lachen.
Einige Stunden später, die Sonne wird wohl bald untergehen, trotten wir alle geschlossen zur Kantine. Wir haben natürlich keinen Rang A-Esper gesehen, wurden jedoch auch nicht daran gehindert zu schwimmen, vielleicht auch, weil einfach niemand da war. Das Wasser war echt angenehm und die Becken riesig. Wir verbrachten mindestens zwei Stunden dort, bevor wir uns erst umzogen und dann zum Mittagessen gingen, welches aus einem kleinen Buffet bestand. Offensichtlich waren alle anderen Schüler zu dieser Zeit beschäftigt, da nur unsere Klasse dort war.
Schon von Weitem hört man den Lärm aus der Kantine und, dass sie nun ganz sicher nicht mehr leer ist. Als wir durch die Tür treten, bekomme ich ganz weiche Knie und halte mich kurz an einem Tisch direkt neben der Tür fest, bevor ich weiter in den Raum geschoben werde. Unser Tisch ist natürlich der, in der hintersten Ecke. Das Essen steht schon bereit und mir läuft das Wasser im Mund zusammen, mein Magen rumort.
Zum Mittag haben wir alle nicht sonderlich viel gegessen, da jeder auf seine Art und Weise angespannt gewesen war, doch nun sind alle Mägen leer und das Essen hier topt echt alles. Schnitzel mit Kartoffelbrei. Beides hatte ich noch nie aus greifbarer Nähe gesehen, geschweige denn essen dürfen.
Jeder Platz ist mit einem Namensschild und einem Briefumschlag versehen. Ich suche schnell meinen Namen und lasse mich auf den Stuhl fallen, sehe mich nach einem Signal um, endlich mit Essen beginnen zu dürfen, während mein Magen immer lauter grummelt, aber zum Glück bin ich nicht der Einzige. Um uns herum sitzen alle ruhig an ihren Tischen und warten offensichtlich auf ein Zeichen. Dann steht ein Lehrer weiter hinten auf und sagt einige Worte, die ich jedoch kaum verstehe, da ich so versessen darauf bin anzufangen. Dann klappert überall Besteck und ich kann mich gar nicht genug beeilen meinen Teller zu leeren.
Kaum eine Stunde später sind wir wieder auf unserem Zimmer. Hans räumt noch seinen Schrank ein, während ich schon in meinem Bett unter David liege und den Briefumschlag in meinen Händen drehe. Es steht nichts außer meinem Namen darauf. Schließlich reiße ich ihn auf und eine kleine Plastikkarte fällt mit zwei Blättern Papier heraus. Das eine ist ein Stundenplan, das andere ein Brief, den ich jetzt allerdings nicht mehr lesen will. Ich schnipse eine Spinne von meiner Decke und schaue mir den Schülerausweis genauer an. Ein kleines Bild von mir in der linken oberen Ecke, von dem ich nicht weiß, wo es herkommt. Rechts daneben die Daten:
Ben Connor
03.04.2062
Klasse 0
Ich stolpere über die letzte Angabe. Wieso 0? Sind wir nicht die 1-E? Ich habe keine Lust zu fragen und verschiebe es zu dem Lesen des Briefes auf morgen. Dafür gibt es sicherlich eine gute Erklärung. Der Ausweis an sich ist grau-weiß mit schwarzer Schrift und am unteren Rand stehen noch einige Daten der Schule. Neben meinen persönlichen Daten sieht man das Schulwappen und hinter meinem Namen einen kleinen goldenen Stern. Auf der Rückseite ist ein dünner Magnetstreifen. Ich lege den Ausweis vorsichtig weg und nehme mir dann den Stundenplan.
Raum 109: Einführung
Erste Stunde für Montag den 18.07.2078 – Wir haben also jede Woche andere Stunden – Oben auf dem Blatt ist die Woche vermerkt, in der der Stundenplan gültig ist.
„Licht aus!“, kommt eine kratzige weibliche Stimme von draußen und eine faltige Hand schiebt sich durch den Türspalt und betätigt den Schalter, sodass ich nicht mehr weiterlesen kann. Die Tür schließt sich mit einem Knall und Ruhe kehrt ein. Im Dunklen lege ich meinen Plan auf den Boden und schiebe ihn mit der Karte und dem Brief etwas unters Bett, so dass ich morgen nicht darauf trete. Dann schließe ich die Augen und versuche zu schlafen, auch, wenn ich davon ausgehe, dass es lange dauern wird, bis ich einschlafen kann.
Kaum zehn Minuten später dämmere ich weg.
Irgendetwas kitzelt mich an meiner Nase und ich schlage verschlafen die Augen auf, blinzele ein paar Mal und schiele auf meine Nasenspitze. Ich könnte wetten, dass das die gleiche Spinne wie gestern ist. Ich schnipse sie weg und setzte mich etwas mühsam in meinem Bett auf, schiele zu der Uhr über der Tür.
5:45
Ich weiß nicht mehr ganz genau, wann wir aufstehen müssen, rieche aber eine Chance alleine ins Bad gehen und mich fertig machen zu können. Ich hasse Gruppenbäder. Die Sachen, die ich heute anziehen will und ein Handtuch sind schnell gefunden und ich beeile mich leise durch den Flur zu kommen. Es ist kein Licht an und ich taste mich an der Wand entlang, bis ich die Türen zum Bad abgezählt habe. Dort schalte ich das Licht ein und gehe zu den Duschen. Natürlich ist noch niemand hier.
Nachdem ich geduscht und meine neuen Sachen angezogen habe, gehe ich wieder an den Waschbeckenzeilen vorbei. Seitdem ich duschen gegangen bin hat sich nur ein Junge ins Bad verirrt und wäscht sich gerade das Gesicht. Hoffentlich werden wir alle so dick, wenn wir lange genug hier sind...
„Aufstehen!“, ruft jemand durch den Gang. Wahrscheinlich der Aufseher hier in der E Herberge. Ich sitze schon wieder in unserem Zimmer, oder besser, liege auf dem Bett. Mir ist der Brief eingefallen, der in dem Umschlag war und ich habe angefangen ihn zu lesen. Es war die Schulordnung.
Schon nach wenigen Minuten wird mir langweilig. Es geht hauptsächlich um Verbote die verschiedenen Fähigkeiten betreffend. Als Faustregel kann man sich jedoch merken, dass sie außerhalb des Unterrichts verboten sind, es sei denn, ein Lehrer genehmigt es, oder gibt uns Aufgaben zum Üben. Da es für mich etwas deprimierend ist immer wieder vor Augen geführt zu bekommen was ich alles nicht kann, lege ich den Brief weg und hole meine Schultasche aus dem Schrank. Auf der Hinfahrt habe ich sie genutzt, um mein Handgepäck zu verstauen. Jetzt hole ich mir meinen Block und die zwei Bleistifte, die wir noch am Freitag gekauft haben und packe sie vorsichtig in die Tasche. Nach kurzem Überlegen werfe ich auch den Schülerausweis hinein. Langsam tröpfeln die anderen wieder ins Zimmer und wir entschließen uns, schon in die Kantine zu gehen um nicht zu spät zu kommen. Wir wissen ja nicht, wie lange wir brauchen werden.
Kaum aus der Unterkunft, hört man schon leise – und stetig lauter werdend – Stimmen aus der Kantine. Offensichtlich sind wir nicht die Einzigen, die etwas früher essen gehen wollten. Wieder werden mir die Knie etwas weich, aber ich behalte mich im Griff. Auch dadurch etwas sicherer, dass wir zu fünft sind, treten wir in die Kantine.
Alle scheinen in bester Stimmung. Hier und da schwebt ein Teller durch die Luft oder leichte Windböen heben Röcke an. Jemand lässt eine kleine Menge Wasser über seiner Hand kreisen und beschleunigt sie, bis es ein durchgehender dünner Ring wird. Der Junge daneben lächelt und lässt sich zeigen, wie es geht. Ich sehe ein Mädchen, dass mit der bloßen Hand eine Kerze anzündet und einen kleinen Jungen, dessen Arm andauernd seine Farbe verändert. So viel zum Thema Verbote.
Mir wird sofort unangenehm bewusst, dass wir hier absolute Außenseiter sind. Noch viel unangenehmer ist aber, dass es meinen Sitzplatz anscheinend nicht mehr gibt. Es fehlen sowohl Stuhl, als auch Namenskärtchen und Tischgedeck, obwohl ich genau weiß, dass ich gestern zwischen Erik und Michel saß. Auch die beiden sehen mich etwas verwirrt an, als ich den namen- und farblose Lehrer von gestern sehe, der mir zuwinkt. Als ich ihn verwirrt ansehe winkt er noch ein Mal nachdrücklicher und verschwindet durch eine Tür. Was soll das? Habe ich was falsch gemacht? Wurde ich aus irgendwelchen Gründen von der Schule geworfen?!
Quatsch.
Bevor ich mich in irgendetwas hineinsteigern kann, durchquere ich schnell den Raum und bleibe erst vor der Tür stehen. Einige Schüler sehen mich interessiert, andere spöttisch an und ich nehme mir keine Zeit weiter nachzudenken.
„Ah. Wunderbar, dass sie mich gesehen haben. Es kam zu einem schrecklichen Fehler, durch den sie leider in der E-Unterkunft untergebracht wurden. Ich habe von dem Wechsel leider einfach zu spät erfahren. Als es mir gestern beim durchgehen der Klassenliste auffiel habe ich es natürlich sofort korrigiert. Ich entschuldige mich für alle Unannehmlichkeiten“, rattert der Lehrer herunter, verbeugt sich lächerlicher Weise sogar noch vor mir und verschwindet durch die Tür. Ich bleibe etwas verwirrt und perplex zurück. Was war das denn? Kopfschüttelnd drehe ich mich von der Tür weg um mich wenigstens hinzusetzten und bemerke jetzt erst, in was für einem Raum ich hier gelandet bin.
Ein großer Esstisch direkt vor einem geradezu unpraktisch riesigen Fernseher, gedeckt mit einigen Schalen, in denen sich Rührei, Brot und hart gekochte Eier befinden. Auf einigen Platten liegen Wurst und Käse. Das alles würde für locker zehn Personen reichen, doch es steht nur ein einziger Teller am Tisch. Auch Stühle sind im Überfluss vorhanden. Dick gepolstert und unglaublich bequem, wie ich feststelle, als ich mich setze. Ich frage mich, für wen dieser Raum eigentlich bestimmt ist. Vielleicht Besucher? Oder den Schulleiter? Als ich auf die Idee komme stehe ich unwillkürlich wieder auf.
Was ein Schwachsinn!
Ich setzte mich wieder. Aber für wen kann dieser Raum sein? Ich finde keine Antwort auf die Frage und gebe schließlich meinem Hunger nach, probiere von allem ein Wenig und bin am Ende pappsatt.
Langsam stehe ich auf und gucke mich noch ein Mal um, bevor ich zur Tür gehe. Mir fällt erst jetzt auf, wie leise es ist. Ich gucke mich erneut um, gibt es hier eine Uhr?
7:50
Mist! Ich habe hier über eine Stunde gesessen! Das Essen hat wohl zu viele Fragen aufgeworfen. Aber wenn ich mich jetzt nicht beeile, komme ich trotzdem zu spät. Und das an meinem ersten Tag hier! Ich greife mir meine Tasche und beeile mich zum Unterrichtgebäude zu kommen, während ich den Stundenplan aus meiner Tasche zerre und ein wenig einreiße. Ich fluche leise.
Raum 109, okay. Das sollte doch irgendwie schaffbar sein, oder?
Am Ausgang der Kantine sehe ich einen Lehrer und beeile mich zu ihm zu kommen.
„Hallo? Könnten sie kurz warten?“, rufe ich ihm auf ein paar Meter zu und er bleibt widerstrebend stehen.
„Wissen sie zufällig, wo Raum 109 ist?“, frage ich höflich und versuche nicht drängend zu klingen.
„Sicher, dass du da hin musst?“, fragt er skeptisch und mustert mich von oben bis unten.
„Ja. Und ich komme zu spät. Könnten sie mir bitte sagen, wo der Raum ist?“
„Natürlich... Geh von hier geradeaus zum Unterrichtsgebäude, da dann die Treppe in den ersten Stock und den Flur nach rechts runter.“
Der Mann sieht mir noch ein Mal verwirrt an, als ich los eile, dann folgt er mir kopfschüttelnd.
„Was willst du denn hier?“, fragt ein Junge in blauem Hemd und hellblauer Hose. Sieht aus wie eine Schuluniform. Habe ich etwa was wichtiges verpasst?! Aber nein. Die anderen aus der E-Unterkunft hatten auch keine Uniformen an. Nur, dass ich hier niemanden den ich kenne sehen kann. Mist. In der Kantine habe ich natürlich auch nicht wirklich darauf geachtet, ob irgendjemand dort eine Uniform trägt. Ich sehe mich noch ein Mal um. Doch. Jeder hier trägt die gleiche blaue Kleidung. Die Mädchen haben mittellange blaue Röcke und ebenfalls Hemden.
„Ich?“, frage ich etwas blöd.
„Nee. Der Kerl hinter dir“, gibt er trocken zurück.
Ich überlege kurz und entscheide mich lieber nicht zu frech zu werden.
„Hey. Ich kann doch nichts für meinen Stundenplan. Ich soll in Raum 109. Der ist doch hier, oder nicht?“, versuche ich es mit Diplomatie.
„Das ist unser Raum. Da kommen ganz bestimmt keine Leute mit Rang E rein.“
Jetzt nervt es mich doch ein wenig:
„Was ist dein Problem? Ich bin ein ganz normaler Mensch, wie du. Scheiß doch mal auf den Rangkram und sag mir, ob ich hier richtig bin.“
„Wirst du jetzt auch noch frech?“
„Vergiss es. Das hat ja sowieso keinen Sinn. Ich warte hier auf den Lehrer und dann werden wir es doch sehen“, sage ich schnippisch und gehe an dem Jungen vorbei und lehne mich neben der Tür an die Wand.
Tatsächlich folgt er mir nicht und macht auch keine Anstalten sich Hilfe zu holen. Erleichtert wische ich mir über die Stirn und merke, dass ich geschwitzt habe. Wieso muss hier alles so kompliziert sein?
Nach wenigen Minuten, die ich mich ständig mehr oder weniger nervös umsehe, kommt ein Lehrer den Gang herunter und da hier sonst keine Klasse zu stehen scheint, muss es ja der – mein? – Klassenlehrer sein. Er schließt den Raum auf und alle drängen hinein. Schnell leert sich der Flur und schon stehe ich alleine da, beeile mich, hinterher zu kommen. Aber im Klassenraum kommt das gleiche Problem auf wie zuvor schon in der Kantine:
Ich habe keinen Platz.
Und ich traue mich auch nicht, mich einfach zwischen die Schüler zu setzen, die mich nun alle verwundert ansehen. Ich beginne wieder zu schwitzen und halte mich vorsichtshalber am Türrahmen fest. Mir wird bewusst, wie schäbig ich aussehen muss und frage mich, was die hier wohl alle von mir denken, ertrinke fast in Fragen und Ängsten, als der Lehrer sich mir lächelnd zuwendet und auf einen komplett leeren und alleine stehenden Doppeltisch zeigt, den ich zuvor übersehen haben musste. Ich nicke ihm dankbar zu und lasse mich am Wandplatz fallen. Das war dann wohl das Schlimmste.
Hoffen wir's.
„Gut. Ich glaube ihr habt Ben jetzt alle lange genug angestarrt, sodass er nicht mehr aufstehen muss. Ich würde mich freuen, wenn ihr ihn nicht aufgrund seines Ranges beurteilt. Er wurde von der Schulleitung versetzt und das wird einen Grund haben“, beginnt der Lehrer freundlich zu der Klasse. „Ich bin übrigens Herr Lindd“, fügt er an mich gewandt hinzu. „Wir haben allerdings zwei neue Schüler. Und ich bin sehr erfreut, dass sich eine Schülerin der Klasse 0 dazu entschlossen hat zumindest einige Wochen, wenn nicht sogar das ganze Jahr in unsere Klasse zu kommen.“
Auf diese Worte folgt sofortiges heftiges Getuschel, von dem ich allerdings nur wenig verstehen kann:
„Klasse 0?“
„Die Klasse 0?“
„Ich dachte, dass das ein Gerücht ist...“
„Wir bekommen einen der stärksten Esper zu sehen!“
„Glaubst du ihm das?“
„Wie sie wohl aussieht?“
Die Stimmen vermischen sich und es wird stetig lauter, bis Herr Lindd das Ganze mit einer Handbewegung beendet.
„Ich muss meine Bitte von eben wohl etwas ausweiten. Bitte beurteilt beide nicht nach ihrem Rang. Wir sind alle Menschen und ihr habt noch genug Zeit mit beiden“, sagt er erneut sehr freundlich und wendet sich dann zur Tafel.
„Da unsere neue Schülerin zu spät kommt, können wir ja schon einmal anf...“
„Ach. Hallo! Tut mirschrecklich Leid, dass ich zu spät bin, aber wir hatten eine wichtige Besprechung und mussten noch Essen“, höre ich eine mir bekannte Stimme aus der Tür, kann jedoch nichts sehen, da ich relativ weit hinten sitze.
„Wunderbar. Das ist Linnea. Unsere zweite neue Schülerin. Setzt dich doch bitte.“
Er wartet, bis Linnea sich einen Platz ausgeguckt hat – während alle zitternd abwarten, neben wen sie sich setzen wird – und ich kann sie endlich sehen. Das ist das Mädchen, dass mich gestern am Bus abgefangen hat! Sie blickt suchend durch den Raum, sieht mich, lächelt und schlendert zu mir herüber. Alle Blicke folgen ihr, bis klar wird, was sie vor hat und ich habe das Gefühl, dass die gesamte Klasse leise aufstöhnt, als sie sich auf den Stuhl neben mir fallen lässt, eine Frage auf den Gesichtern:
Wieso der?!
Da ich auch keine Ahnung habe, blicke ich das Mädchen fragend an. Sie hat langes schwarzes Haar, trägt ein etwas zu weit offenes schwarzes Hemd und eine schwarze zerrissene Hose. Mir fällt auf, wie unnatürlich blass und dünn sie ist.
„Gut. Dann möchte ich euch gerne im Namen der ganzen Klasse 1-D willkommen heißen. Holt bitte alle eure Blöcke heraus!“
„Hey Ben“, meint Linnea neckisch, als ich sie wieder ansehe und ich werde ohne jeden Grund rot und wende mich ab. „Na na na. Was ist denn los mit dir?“
„Ich kenne dich nicht und was soll mit mir los sein?“, gebe ich vielleicht etwas zu unfreundlich zurück.
„Bist du immer so gemein?“, kommt die schmollende Antwort und ich drehe mich wieder um, muss beim Anblick ihres Gesichtes lachen und halte mir schnell die Hand vor den Mund.
Die ganze Klasse sieht uns an, mit Ausnahme des Lehrers, der etwas an die Tafel schreibt und sich nicht einmal umgedreht hat.
„Das hier ist kein Zufall, oder? Was hat jemand wie du hier verloren? Was wolltest du gestern?“
„Schon wieder so unfreundlich“, insistiert Linnea und zieht wieder ihren Schmollmund. „Bedanke dich doch mal. Du bist nur wegen mir hier.“
„Und was, wenn ich hier nicht sein will?“
„Dann kannst du gerne auch ganz schnell von der Schule fliegen“, feuert sie schnippisch zurück und ich habe das Gefühl, dass sie das ernst meint.
„Wieso glaubst du, dass ich hierher gehöre? Und wieso tut die Schulleitung Dinge auf den Befehl eines Schülers?“, frage ich leise weiter.
Wir werden immer noch von allen beobachtet.
„Ich glaube, das erkläre ich dir lieber nach der Stunde. Wir müssen gleich noch was erledigen. Wäre es schlimm für dich, den Rest des Tages ausfallen zu lassen?“
„Wir?“
„Supi! Ich rede gleich mit Lindd und dann können wir in der Pause schon mal das Gröbste klären.“
„Ich fühle mich hier ein wenig übergangen“, werfe ich ein.
„Vielleicht lässt er uns ja sogar etwas früher gehen...“, denkt Linnea laut nach, mich weiterhin ignorierend.
Ich seufze und versuche das Tafelbild abzuschreiben, bevor Lindd es abwischt, doch er ist gerade damit beschäftigt uns zu erzählen, was wir außer dem normalen Unterricht dieses Semester noch machen werden, also kann ich mir Zeit lassen. Gut für mich, dass ich nicht zuhören muss. Die Meisten Sachen sind ja sowieso nur für die Esper, sprich jeden außer mir.
Ich schiele kurz auf meinen Stundenplan. Wir hätten gleich Sport, aber Linnea hat ja gesagt, dass wir noch etwas klären müssen.
Ich gucke noch ein Mal auf den Stundenplan. Nach Sport hätten wir die ersten Tests, die die Grundnoten für unsere Fähigkeiten dieses Jahr festlegen sollen.
Da wäre ich ja eh nicht dabei.
Danach kommen Mittagessen und für heute frei. Ich schreibe weiter das Tafelbild ab und wundere mich, wieso Linnea nicht mitschreibt, sondern mit den Fingern einen ungeduldigen Rhythmus klopft, während sie aus dem Fenster guckt.
„Habt ihr sonst noch Fragen?“
Gemurmel, Stille.
„In Ordnung“, lächelt Lindd. „Dann dürft ihr heute noch mal früher gehen, weil der erste Schultag ist.“
Entgegen meiner Erwartung, springen nach diesem Satz jedoch nicht alle auf und stürmen auf den Hof in die Sonne. Dafür kehrt wieder die relative Stille ein, die immer auf die Frage eines Lehrers folgt, die niemand sofort beantworten kann. Ich brauche viel zu lange, um zu bemerken, dass ein Mal mehr alle Linnea anstarren und ich frage mich erneut, was an der Klasse 0 so besonders ist. Aber noch wichtiger ist eigentlich eine andere Frage:
Wieso steht auf meinem Ausweis, dass ich in dieser Klasse bin, ohne, dass ich je davon gehört habe?
Ich schüttele meinen Kopf und packe meine Tasche. Stifte, mein Block. Dann schließe ich mich mangels guter Alternativen der Beschäftigung der Anderen an.
Linnea steht vorne bei Herrn Lindd und redet mit ihm, ich kann jedoch nicht verstehen, was sie besprechen.
Als die allgemeine Aufmerksamkeit allmählich nachlässt, dreht sich Linnea um und geht zurück zu ihrem Platz. Sofort kehrt wieder absolute Stille ein. Ich stelle das Starren ein und stehe auf. So oder so gehe ich jetzt.
„Hey! Du bist ja immer noch da“, meint der Kerl von vorhin in die absolute Stille und nun sehen alle mich an.
„Hallo? Neuer Schüler? Nicht mitbekommen?“, frage ich genervt und mache Anstalten, mich an ihm vorbei zu drängen, komme aber nicht weit, da er mich mit der Schulter zurück und gegen die Tischkante stößt.
Ich blicke mich schnell zur Tafel um. Lindd packt gerade seine Tasche und hat nichts gesehen.
„Aber dich will hier keiner haben“, fährt mich der Kerl aggressiv an und ich frage mich, was sein Problem ist.
„Ach. So würde ich das nicht formulieren“, kommt mir jemand zu Hilfe mit dem wir beide nicht gerechnet hatten. „Aber wenn ihn hier sowieso niemand haben will, dann hast du sicherlich kein Problem, wenn ich ihn jetzt mitnehme“, meint Linnea und geht an dem Kerl vorbei. Alle Köpfe drehen sich zu ihr. Dann, wie auf Kommando, gucken alle wieder mich an und scheinen auf eine Reaktion zu warten. Ich komme mir vor wie im Theater.
„Wieso willst du ihn mitnehmen? Woher willst du wissen, dass ich keine viel bessere Gesellschaft bin?“, fragt der Junge provokant und schon wechselt der Fokus der Zuschauer wieder auf ihn. Ich muss dem Drang widerstehen mir einen Scheinwerfer vorzustellen, der ständig zwischen uns hin und her springt, unentschlossen, wer die meiste Aufmerksamkeit verdient. Der edle Ritter, der seine Klasse verteidigt, die mächtige schöne Königin, oder der Bauerntrottel, der sich in die Szene verlaufen hat.
„Das kann ich nicht“, gibt Linnea nachdenklich zurück. „Aber weißt du was? Ich glaube ich lasse es drauf ankommen“, fügt sie mit einem Lächeln hinzu, nimmt meine Hand und zieht mich durch den Raum.
Kurz bevor alles weiß wird, sehe ich, dass wieder alle michanstarren. Tolle Klasse.
Ich stolpere nach vorne, mir ist spei-übel. Mein ganzer Körper prickelt, als würden tausende Insekten unter meiner Kleidung herumkriechen. Das Gefühl lässt jedoch schnell nach und ich blinzele die Tränen aus meinen Augen, sehe mich irritiert um.
„Du bist also ein Teleporter?“, frage ich, während ich mich weiter umsehe
Wir stehen auf dem Osthof, vor dem Eingang zum Lehrerzimmer und den Büros der Schulleitung. Das Gebäude ist hoch und grenzt an den riesigen Turm an, der aus dem Unterkunftsgebäude in den Himmel ragt.
„Knapp daneben, aber das kann ich dir später erzählen. Ich hab dir ja schon gesagt, dass du wegen mir in die Klasse gekommen bist. Sorry übrigens für den Idioten. Ich hätte wissen müssen, dass einige Schüler das nicht ganz so toll finden“, informiert mich Linnea nebenbei, öffnet die Tür des Gebäudes und sieht mich abwartend an.
Ich erröte leicht, als ich zu spät registriere, dass sie mir die Tür aufhält und trete schnell ein.
„Ähm... Linnea?“, beginne ich etwas zögernd. „Ich habe keine Ahnung wer du bist, was die Klasse 0 ist, wieso du mich dort haben willst und so weiter. Kannst du verstehen, dass mir das gerade etwas schnell geht?“, fahre ich etwas verzweifelt fort.
Linnea stoppt mitten auf der Treppe – wir gehen gerade zu den Büros der Schulleitung – und sieht mich offen erstaunt an.
„Du weißt wirklich gar nichts? Habt ihr keine Infozettel oder so bekommen?“
„Naja. Eigentlich nicht. Im Bus lag glaube ich einer, aber ich habe mir lieber die Karte angesehen...“
Ich komme mir ziemlich dämlich vor.
„Wow. Sag das doch gleich.“
„Hab ich, aber wenn du mir nicht zuhörst...“
„Ich kann das aber leider nicht alles jetzt machen, also wirst du wohl noch ganz kurz auf deine Erklärung warten müssen“, lächelt sie und ich widerstehe der Versuchung mir mit der flachen Hand vor die Stirn zu schlagen. „Also. Wir gehen jetzt zu Herrn König, dem Leiter der Klasse 0. Er hat ein paar Formalitäten für dich. Danach werde ich dir wohl alles zeigen sollen, also haben wir da genug Zeit zum Reden. Dann kann ich dir alles erzählen, was du wissen musst.“
Ich mache mir gar nicht erst die Mühe zu antworten und gehe einfach weiter die Treppe hoch.
Wir stehen vor einer schlichten hölzernen Bürotür. Rechts davon ist eine kleine Karte befestigt:
Derek König
Leitung der Klasse 0; Stellvertretender Schuldirektor
Linnea hat geklopft und wartet jetzt erstaunlich ruhig und geduldig auf eine Reaktion.
„Herein!“, ruft eine angenehme, weiche Stimme von innen.
Ich versuche mir diesen Herr König vorzustellen. Mittelgroß, kurze Haare. Ein maßgeschneiderter Anzug? Vielleicht ein Bart? Bestimmt ein wenig rundlich.
„Guten Tag Herr König“, sagt Linnea respektvoll und geht eine Schritt zur Seite, so dass ich ebenfalls eintreten kann.
Herr König ist mittelgroß, ja. Auch der Anzug stimmt im weitesten Sinne, aber das war es dann. Lange blonde Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine elegante Brille, ein schmales Gesicht, glatt rasiert und dürr wie eine Bohnenstange. Er lächelt mich warm an und bedeutet uns Platz zu nehmen.
„Schön, dass ihr hier seid“, sagt er, als wir alle sitzen. „Linnea hat dich im Groben darüber informiert, was hier eigentlich Sache ist?“
Bevor ich antworten kann tritt Linnea mir auf den Fuß und ich täusche ein Husten vor um einen kleinen Aufschrei zu unterdrücken. Was hat die für Schuhe an?
„Ja, habe ich. Sie müssen ihm eigentlich nur erklären, wie unsere Vereinbarung lautet. Wegen unserer Besprechung heute morgen konnte ich nicht mehr mit ihm darüber reden.“
„Wunderbar. Nun Ben, unsere liebe Linnea hier“, er machte eine Geste in ihre Richtung, „kam gestern ein wenig aufgelöst hier herein und schwafelte etwas von einem neuen Mitschüler, von dem sie noch gar nichts gewusst hatte. Ich weiß nicht, ob sie dir dasschon erzählt hat, aber Linnea ist zur Zeit der wahrscheinlich stärkste Esper auf der ganzen Welt. Sie ist schon seit ihrer Geburt hier und genießt aufgrund ihrer Fähigkeiten und Ambitionen der Schule gegenüber eine Menge Ansehen unter den Lehrern und Forschern. Es ist sogar ein wenig ihr Verdienst, dass es die Klasse 0 überhaupt gibt. Ihre Fähigkeiten liegen weit außerhalb dessen, was wir uns vorstellen können, aber glaub mir, das ist nicht so wundervoll und leicht, wie es sich gerade anhört“, ich sehe kurz zu Linnea und frage mich, wieso er mir das erzählt. Linnea für ihren Teil sitzt allerdings einfach nur stumm da und wird langsam rot. „Worauf ich hinaus will, ist, dass Linnea die Dinge anders sieht, als wir gewöhnlichen Menschen. Sie kann die Fähigkeiten der Menschen sehen und beurteilen. Wir haben auch Apparate, die diesen Zweck erfüllen, aber Linnea ist um einiges präziser und kann uns meist deutlich mehr sagen, als die bloße Stärke. Auf jeden Fall sprach sie gestern von dir und als ich sie informierte, dass du offiziell ein Rang-E bist, bestand sie darauf, dich in die Klasse 0 aufzunehmen. Ich gebe zu, ich war mit gewissen Einschränkungen dagegen, aber nur, da du bisher offensichtlich nie irgendwelche Kräfte gezeigt hast, was nach dem, was Linnea mir erzählt hat eigentlich unmöglich sein sollte. Deswegen habe ich gesagt, dass wir dich aufnehmen, sobald deine Fähigkeiten sich zeigen. Wie du siehst wurde ich überstimmt. Allerdings habe ich erwirken können, dass du nur auf Probe aufgenommen wurdest. Bitte nimm es mir nicht übel, aber es ist nur zu deinem Besten. Die Klasse 0 hat einige Aufgaben, die dich sehr schnell in große Gefahr bringen könnte, hätte Linnea sich in dir geirrt...“, sagt Herrn König ein wenig unglücklich. „Was ich sagen will ist, dass ich mir Sorgen um dich mache...“, fügt er noch hinzu und ich glaube ihm, dass er es ernst meint.
„Es ist gut. Er wird schon nicht gleich losgehen und versuchen irgendjemanden damit einzuschüchtern und sich seinen Pausenapfel zu nehmen“, unterbricht ihn Linnea immer noch ziemlich rot. „Er kann doch nichts dafür, was ich gesehen habe.“
„Natürlich. Tut mir Leid Ben, aber ich hatte heute einen sehr stressigen Tag. Nur einen letzten Rat, was dein Betragen angeht. Gerade vor Lehrern, bitte orientier dich nicht zu sehr an Linnea, okay?“
Er sieht mich erwartungsvoll an, dann höre ich, wie Linnea neben mir anfängt zu lachen und sowohl Herr König als auch ich stimmen ein.
„Hey. Sorry, dass ich dir den Kram nicht erzählt habe. Aber wie soll ich wissen, dass du gar keine Ahnung hast“, plappert Linnea los, als wir aus Herrn Königs Büro kommen. „Wo soll ich bloß anfangen – Hier rechts abbiegen – was würdest du denn gerne als Erstes wissen?“
„Ich fände es schon praktisch,würde mir endlich mal jemand sagen, was diese verdammte Klasse 0 ist“, gebe ich ein wenig mürrisch zurück.
In was hat mich Linnea hier hereingezogen?
„Eigentlich gar nichts so Besonderes, wie immer alle behaupten. Letztendlich sind wir alle Schüler, die außerhalb des normalen Rangsystems liegen. Ich könnte dir jetzt alles aufzählen, aber der größte Unterschied zu den normalen Schülern ist, dass wir viel enger mit der Forschung zusammenarbeiten und zusätzlich einige spezielle... Aufgaben erledigen.“
„Was heißt das jetzt für mich? Was soll ich den anderen aus meiner Unterkunft, aus meinem Zimmer, erzählen?“
„Achso, stimmt. Wir haben eine eigene Unterkunft. Deine Sachen wurden schon hochgebracht.“
„Hoch?“
„Ja. Wir wohnen im Turm. Wenn du willst, können wir da als Erstes hin.“
„Ich... ja. Okay. Wie du meinst.“
„Dann jetzt die Treppe hoch“, sie deutete auf eine Treppe nach oben und beschleunigte ihre Schritte
„Du hast immer noch nicht gesagt, was sich speziell für mich jetzt ändert“, gebe ich nach kurzem Schweigen zu bedenken.
„Nicht viel. Du kommst in unsere Unterkunft, hast ein paar Stunden Unterricht mehr... Wie gesagt, das ist alles nicht so beeindruckend, wie alle denken.“
Da ich nicht weiß, was ich darauf erwidern soll, folge ich ihr einfach weiter die Treppe herauf. Wir biegen noch ein Mal ab, dann stehen wir vor einer großen Holztür, neben der ein kleiner Kartenschlitz ist.
„Schülerausweis“, befielt Linnea.
„Wieso?“
„Weil ich meinen vergessen habe und wir gucken sollten, ob deiner schon funktioniert“, erläutert Linnea.
Ich gebe ihr meinen Schülerausweis und sie zieht ihn durch den Kartenschlitz. Eine kleine grüne Leuchtdiode blinkt, die Tür klickt.
„Wunderbar.“
Linnea gibt mir meinen Ausweis wieder und drückt die Tür auf.
„Du hast nie etwas von zusammen wohnen gesagt.“
„Ist das so schlimm für dich?“
„Gibt es keine getrennten Zimmer?“
„Wir haben hier oben nicht so viel Platz...“
„Dafür ist das Zimmer aber ziemlich groß.“
„Ist ja auch ein Doppelzimmer. Jetzt hör auf zu meckern.“
Linnea und ich stehen in einem der beeindruckendsten Räume, die ich bisher gesehen habe. Die Decke ist hoch und zur Außenwand leicht abfallend. Die Außenwandist dabei jedoch eigentlich kaum mehr, als eine einzige Glasfront, die ohne Unterbrechung und leicht gekrümmt von der linken bis zur rechten Wand des Zimmers verläuft. Ich stehe immer noch in der Tür, bestaune den Raum. Vor der Fensterwand steht ein kleiner Tisch mit Sesseln, an der linken Wand befinden sich zwei Schreibtische und einige Bücherregale, in denen alte dicke Wälzer stehen. Rechts stehen ein Hochbett und einige Schränke. Eine kleine Tür zwischen Schränken und Bett führt, wie Linnea gesagt hat zum Bad und natürlich hatte sie es auch nicht unterlassen, mir mitzuteilen, wietot ich sei, solle ich auf die Idee kommend das Bad zu betreten, wenn sie darin ist.
„Kommt jetzt vielleicht mal ein „Danke Linnea, dass ich nur dank dir hier wohnen darf!“ oder zumindest etwas in der Art?“
„Meinetwegen... Danke.“
„Man, bist du unhöflich“, meint Linnea etwas beleidigt.
Ich bin gerade wohl wirklich etwas undankbar. Wird mir hier nicht jeder einzelne meiner Träume auf dem Silbertablett serviert? Oder bin ichgerade deswegen so misstrauisch und mürrisch? Ist das nicht alles zu einfach?
„Okay, tut mir Leid. Ich find's wirklich toll, dass du mir das hier alles ermöglichst. Aber, kannst du mir sagen, wieso du dich so sehr für mich eingesetzt hast? Ich meine – du lässt gerade einen fremden Jungen in dein Zimmer einziehen.“
„Können wir das vielleicht auf später verschieben?“, erwidert Linnea leise, fast schüchtern.
„Klar. Darf ich was anderes fragen?“
„Natürlich. Schieß los.“
„Was ist mit deinen Augen passiert?“
„Okay, die Frage ist jetzt echt bescheuert.“
„Krieg ich trotzdem eine Antwort?“, grinse ich schief um mir nicht ganz so dämlich vorzukommen.
Linnea seufzt.
„Ich bin blind. Sieht man das nicht?“
„Eine Blinde die sehen kann?“, scherze ich, um mein Erstaunen zu überspielen.
„Vielleicht kenne ich mich ja nur gut aus“, gibt sie zu bedenken und lässt sich in einen der Sessel fallen, gießt sich Wasser in ein Glas, das dort zusammen mit einer Flasche steht und trinkt einen Schluck.
„Und du erwartest, dass ich dir dasabnehme?“
„Naja so helle bist du ja nicht, also: Wieso nicht?“
„Womit hab ich das nur verdient...“, frage ich leise und niemanden bestimmtes.
„Nur zu deiner Info. Das war kein Scherz. Wenn ich dir alles aufzählen soll, gerne:
Ich bin blind, habe Muskelschwund, einen Herzfehler, eine ziemlich kaputte Lunge und mein linker Arm ist auch nicht ganz genau das, wonach er aussieht“, meint Linnea trocken. „Du darfst gerne noch ein Mal fragen, womit du dein so grausames Schicksal verdient hast.“
„Ich... Das...“
„Hör auf zu stottern und komm her anstatt da in der Tür zu stehen, dann erkläre ich dir was ich eben meinte.“
Ich komme langsam näher, sehe mir das blasse, etwas zu schlanke Mädchen im Sessel etwas genauer an. Nach ihrer Beschreibung ist sie ein wandelnder Leichnam.
„Also. König hat doch gesagt, dass ich der mächtigste bekannte Esper bin, stimmt's? Und er hat auch gesagt, dass das alles nicht ganz so toll ist, wie es erst klingt. Das liegt daran, dass wir Menschen nicht für diese Kräfte gedacht waren. Sie entwickeln sich, wenn man so will, schneller, als unsere Körper. Diese ungeheure Kraft... Sie tötet mich... und hält mich am Leben. Meine Augen waren das Erste, was dran glauben musste, falls dich das überhaupt interessiert“, sie unterbricht sich kurz und sieht mich mit großen traurigen Augen an, doch ich bin zu geschockt um einen Einwand zu erheben. „Ich blendete mich selbst mit meiner Kraft, als ich sie das erste Mal und natürlich vollkommen unfreiwillig einsetzte. Damals war ich vielleicht vier Jahre alt. Aber meine Sehkraft kam wieder. Anders als vorher. Stärker. Ich konnte alles sehen, nicht nur das was vor mir geschah, sondern wirklich alles rundherum, mit geschlossenen Augen. Um auf deine Frage von vorhin zurück zu kommen – Meine Kraft ist das Licht und darüber sollte ich glücklich sein, sonst wäre ich auf immer blind gewesen. Die Lunge und das mit dem Herz sind Geburtsfehler, die, das glauben zumindest die Forscher hier, auch mit meiner Kraft zusammenhängen. Mein Körper stützt sich auf die Kraft wie eine Krücke. Sie lässt mein Herz schlagen, hilft meiner Lunge und spendet meinem Körper Energie. Egal was hier alle sagen, wie toll es doch sein muss der stärkste Esper der Welt zu sein. Es ist die Hölle.“
Mit diesen Worten, legte sich das Schweigen wie eine schwere Decke auf uns.
„Was hast du in mir gesehen, dass du mich unbedingt hier haben wolltest?“, frage ich nach einer langen Pause.
„Gesehen? Nichts. Aber ich hab etwas gefühlt. Ich glaube, dass du ebenso besonders sein könntest wie ich und... es ist sehr einsam so zu sein...“
„Ben? Hast du Lust mal etwas auszuprobieren?“, fragt Linnea.
Wir liegen schon beide in unseren Betten, ich im Unteren, sie im Oberen und ihr Kopf schleicht sich langsam in mein Sichtfeld, obwohl ihre Haare schon einige Zeit über den Rand hängen.
„Ähm. Ja. Nein. Keine Ahnung, es ist mitten in der Nacht, was willst du bitte ausprobieren?“
„Wenn ich's verrate, macht's doch keinen Spaß mehr. Komm einfach mit.“
Ohne auf meine Antwort zu warten springt sie vom Bett und landet lautlos auf dem Boden. Ihr Nachthemd flattert hoch und ich drehe mich schnell weg. Nicht, dass es meine Schuld wäre, würde ich etwas sehen, dass ich nicht sehen soll.
„Jetzt komm schon her“, meint Linnea, plötzlich ziemlich aufgedreht.
Ich stehe langsam auf und sie nimmt meine Hand, zieht mich zur Tür, öffnet sie und wieder wird alles weiß.
„Was ist das für ein Trick, wenn nicht Teleportation“, frage ich mürrisch.
Wir sind vor der großen Holztür gelandet und Linnea zieht gerade ihren Ausweis durch den Kartenschlitz.
„Bist du da echt noch nicht selber drauf gekommen?“, grinst sie mich an, schiebt die Tür auf und greift erneut nach meiner Hand. Bevor ich sie wegziehen kann, wird schon wieder alles weiß.
Mir ist mal wieder übel und ich stütze mich an der nächstbesten Wand ab, ohne darauf zu achten, wo wir gelandet sind.
„Das hier ist die Aula und direkt darunter befindet sich der Übungsraum der Klasse 0. Aber wir benutzen ihn auch, um die neuen Schüler zu ranken. Glaub mir, du könntest da drin eine Bombe zünden und oben merken die das nicht mal.“
„Das heißt, dass, sagen wir mal du, keine Bombe überbieten könntest?“
„Gute Frage“, erwidert Linnea plötzlich nachdenklich.
„Lass es lieber. Ich will gerne noch ein wenig weiterleben.“
„Wenn du meinst“, erwiderte sie schulterzuckend. „Du, ich muss kurz noch was holen. Bleib einfach hier stehen.“
Ich drehe mich zu ihr, um sie zu fragen, wieso sie das nicht gemacht hat, bevor sie mich hier runter in die Kälte gestellt hat und sehe gerade noch, wie sie scheinbar langsam zerfasert und dann einfach weg ist. Ich reibe mir die Augen. Klar. Licht. Das erklärt das Tempo. Aber wie hat mein Körper das überstanden?
„Ah super, du hast gewartet“, meint Linnea hinter mir und ich drehe mich erschrocken um.
Sie war kaum eine Minute weg gewesen.
„Was hast du denn noch gebraucht?“
„Das hier“, sie wedelt mir mit einer kleinen Spritze vor dem Gesicht herum. „Die bewahren sie wo anders auf.“
Dann geht sie in das Gebäude und zu einer weiteren Tür mit Kartenschlitz. Dieses Mal eine aus Metall. Sie zieht ihren Schülerausweis durch und geht in den Raum dahinter. Ich folge ihr zögernd. Der Raum – die Halle? – den wir betreten ist wahrscheinlich genau so groß, wie die Aula darüber. Ich kann ohne Licht jedoch nicht weit sehen. Die Wand neben mir ist glatt und weiß gestrichen, der Boden aus Metall.
„Was immer du vor hast, ich halte das für keine gute Idee“, sage ich schon ein Mal provisorisch zu Linnea.
„Kann gut sein, dass du Recht hast. Willst du in der Klasse 0 bleiben? Also richtig aufgenommen werden?“
„Ganz ehrlich? Ich glaube schon. Aber ich habe ja immer noch kaum eine Ahnung, was hier alles abgeht.“
„Das kommt noch. Hier, fang!“, sie wirft mir die Spritze zu und ich schaffe es fast sie fallen zu lassen aus Angst, ich könnte mich stechen. Dann fällt mir auf, dass eine Kappe darauf ist und ich schäme mich einen angemessenen Zeitraum. Währenddessen verschwindet Linnea in der Dunkelheit der Halle.
„Warte. Licht kommt gleich.“
Und dann flammen tatsächlich Leuchtstoffröhren in der Decke auf und ich kann meine Ahnung bestätigen. Dieser Raum hier ist so groß, wie die Aula darüber. Die Wände sind durchgehend weiß und glatt und auch mit dem Boden hatte ich recht. Quadratische Metallplatten machen ihn zu einem großen Schachfeld.
„Jetzt komm schon her!“
„Was willst du überhaupt machen?“, frage ich misstrauisch zurück und bewege mich keinen Millimeter.
„Die Spritze da in deiner Hand“, meint Linnea von der anderen Seite der Halle, ist das Mittel, dass sie den Leuten spritzen, die hier aufgenommen werden und obwohl sie nicht Rang-E sind, keine Fähigkeiten haben“, erklärt sie und ergänzt noch schnell: „Natürlich alles freiwillig! Es klappt noch nicht bei allen, aber wir haben die Erfolgsquote schon auf sechzig Prozent gesteigert.“
„Was heißt wir? Und wieso weiß ich davon nichts?“
„Wie gesagt. Freiwillig und ab Rang-D. Wir arbeiten schon seit über fünf Jahren daran, aber für Leute des E-Ranges haben wir noch keine wirksame Formel gefunden. Und wir, sind die Klasse 0 und die Wissenschaftler hier an der Schule.“
„Was soll ich dann mit dem Zeug? Und wieso macht das niemand, der... Keine Ahnung... Erwachsen ist? Oder wenigstens so aussieht, als wäre erlaubt, dass er es tut?“
„Ich hab schon mit König gesprochen. Er glaubt, dass es den Versuch nicht lohnt, da du ein Rang E bist und das Mittel sehr teuer.“
„Kann es sein, dass er mich echt nicht leiden kann?“
„Nein. Er mag dich glaube ich sogar ganz gerne. Es ist nur so, dass du hier gerade für ziemliche Unruhen sorgst und, dass es einige Sachen gibt, die du - die niemand - über die Klasse 0 wissen darf. König weiß, wie geheim die Sachen sind und macht sich eben schnell Sorgen. Du bist ein Risiko für ihn, das er nicht eingehen möchte.“
„Ich sehe schon, er muss mich lieben. Was darf ich nicht wissen?“
„Darfst du nicht wissen.“
„Jetzt verarsch mich nicht.“
„Nimm das hier, zeig allen, dass du dazu gehörst und ich darf's dir sagen.“
„Das ist Erpressung.“
„Nein...“, eine Pause. „Warte... Doch, Erpressung. Machst du's?“
„Ich... Scheiße, ja!“
Ich bin zu neugierig. Was kann schon schief gehen? Das Schlimmste was passieren kann, ist doch, dass nichts passiert.
„Wunderbar. Komm her, dann mach ich das für dich.“
Ich bin mir allerdings immer noch nicht vollkommen sicher. Ich stolpere zu Linnea, als ob mein Körper nicht weiß, ob er zu ihr gehen, oder weg rennen möchte. Ich bestürze mich selbst mit Fragen. Der Kern bleibt jedoch der Gleiche: Will ich das wirklich? Wäre es nicht viel besser wieder in meine alte zerfallene Unterkunft zu gehen, zu Leuten, die sind wie ich, in eine Klasse zu gehen, in der alle sind wie ich? Ich hatte die große Chance auf diese Schule zu gehen und habe sie schon nach kaum einer Stunde als Fluch angesehen. Jetzt stehe ich hier, vor allen meinen Träumen und hadere wieder mit mir selbst.
Und vor allem, wer sagt, dass ich wirklich zu denen aus Rang-E gehöre? Linnea war sich sicher. Meine Entscheidung fällt. Träume oder traurige Realität.
Linnea steht in einem kleinen Raum, der vom Rest der Halle durch eine schmale Tür getrennt ist. Ich trete schnell zu ihr und ohne Umschweife drückt sie mich auf einen schmalen Stuhl mit einer Armlehne, als ich ihr meine Entscheidung mitteile:
„Jetzt mach schon, bevor ich mich noch umentscheiden kann.“
„Wenn du still hältst.“
Sie bindet mir den Arm ab und ich sehe mich um. An der einen Wand hängt ein Monitor, der anscheinend mit einer Kamera in der Halle verbunden ist, an zwei anderen stehen Schreibtische, die mit Computern und Papier überhäuft sind. An der Wand hängt die Zeichnung eines Menschlichen Körpers, dich ich allerdings nicht verstehe. Der Stuhl auf dem ich sitze steht direkt neben der Tür und ist ein wenig unbequem mit seiner einen Armlehne, auf der Linnea gerade meinen Arm vorbereitet. Gerade, reibt sie ein wenig an meiner Armbeuge, bedeutet mir, lieber weg zu gucken und sticht dann zu. Umgehend breitet sich eine Wärme in meinem ganzen Körper aus, so vollkommen, dass ich nach Luft schnappe. Ich scheine plötzlich kaum noch die Hälfte zu wiegen. Langsam stehe ich auf.
„Alles gut?“, fragt Linnea und nimmt mir den Gurt vom Arm.
„Ich – Ich glaube schon.“
„Geh einfach in die Halle, ich muss das hier nur abschließen.“
Ich nicke und wanke langsam in die Halle. Das Licht blendet mich, brennt in meinen Augen, auf meiner Haut. Hinter mir knallt die Tür, tausend Mal lauter, als sie es eigentlich dürfte. Ich sehe zwei Linneas abschließen. Was für eine kranke Droge ist das?
„Sicher, dass du weißt, was du getan hast?“
„Ja. Ich helfe sonst auch beim Testen. Ich war heute nur wegen dir nicht dabei.“
Ich stolpere, kann mich aber wieder fangen. Dann wird mir übel und ich falle auf meine Knie.
„Alles in Ordnung?“, kommt es von der nun doch besorgten Linnea.
„Ja. Ich...“
Meine Stimme versagt und ich muss mich übergeben. Zumindest denke ich das. Was aus meinem Mund kommt ist nichts mehr, als feiner schwarzer Nebel. Ich huste trocken.
„Okay, das ist definitiv ein gutes Zeichen“, meint Linnea fröhlich, doch ich höre die Zweifel in ihrer Stimme.
Meine Haut brennt immer schlimmer und ich fühle mich, als würde sie verbrennen. Ich kämpfe mühsam gegen den Würgereiz, versuche aufzustehen und scheitere. Linnea legt mir eine Hand auf die Schulter und ich weiß jetzt schon, dass ich ihr hierfür nicht böse sein kann, egal, wie es endet. Dann flutet eine neue Welle Schmerzen durch meinen Körper und mir gehen endgültig die Lichter aus.
Ich schlage langsam die Augen auf. Mir tut immer noch alles weh, die Welt dreht sich rasend schnell. Ich blinzele einige Male. Ich gucke direkt in die Leuchtstoffröhren, liege auf dem Rücken am Boden. Die Welt dreht sich nun immer langsamer und irgendwann sehe ich mich im Stande zu sitzen. Ich gucke mich um. In einer Ecke hockt Linnea, die Arme vor ihrem Kopf verschränkt, um sie herum eine milchig weiße Kugel, von ungefähr zwei Metern Durchmesser. Sieht aus, wie eine Art Schutzschild. Die Farbe an den Wänden ist an ein paar Stellen abgebröckelt und ich bemerke eine Anzeigetafel an der Wand über der Tür. Das Glas davor ist gesplittert, aber nicht zerbrochen und man kann undeutlich die Zahl dahinter erkennen, bevor die Anzeige flackert und in einem Funkenschauer erlischt:
253
Ich spüre, wie ich langsam wieder zu mir komme, fühle meinen Körper wieder... und bin nicht glücklich darüber. Mein ganzer Körper brennt und ich kann mich nur schwerlich bewegen. Auch meine Gedanken kriechen nur schwerfällig durch meinen Kopf und ich kann mir nur langsam zusammenreimen, wo ich mich gerade befinde.
Die Wände des Krankenzimmers sind weiß, genau wie das Bett in dem ich liege und die Decke, die mich bedeckt und unter der mir langsam ziemlich warm wird. Ich ziehe mühsam meinen Arm darunter hervor und schlage sie zurück. Meine Muskeln brennen immer noch, aber die Bewegung tut gut, ist auf merkwürdige Art und Weise befreiend. Gerade, als ich meinen zweiten Arm auch unter der Decke hervorziehen will, höre ich draußen Schritte, dann, Stimmen. Ich halte inne und lausche. Es sind Linnea und Herrn König:
„Und du behauptest, er wäre das gewesen? Linnea, du musst zugeben, dass das alles etwas zu... passend wirkt?“
„Was wollen sie mir damit sagen?“, kann ich Linnea deutlich und wütend hören. „Etwa, dass ich das alles inszeniert haben soll? Nennen sie mir einen Grund für mich das zu tun!“
„Bitte reg dich nicht auf, es ist doch nur so, dass es für mich als Außenstehenden schwer zu glauben ist, dass er, das eine Mal, als seine Kraft sich gezeigt hat die gesamte Trainingshalle demoliert haben soll und, dass dabei ebenfalls ganz zufällig die Messanlage so stark beschädigt wurde, dass man das letzte angezeigte Ergebnis nicht mehr wiederherstellen kann?“
„Ja, in etwa das versuche ich ihnen seit gestern Abend zu erklären“, antwortet Linnea sehr gereizt. „Oder wollen sie meine Glaubwürdigkeit in Frage stellen? Schließlich haben sie ihn auf meinen Rat hin in die Klasse 0 aufgenommen.“
„Auf Bewährung, wohlgemerkt. Aber genau davor habe ich Angst. Es kommt mir einfach zu wahrscheinlich vor, dass du die Schlappe nicht hinnehmen wolltest, dich einmal geirrt zu haben.“
„Das ist doch...!“, höre ich Linnea fast durch den Flur schreien. Es folgen sich schnell entfernende Schritte und das Knallen einer Tür, so laut, dass ich Angst bekomme sie könnte aus den Angeln geflogen sein.
Nach einer kurzen Pause öffnet sich die Tür meines Zimmers mit einem leisen Klicken und Herr König tritt ein.
„Hallo, Ben. Ich hoffe, dass du...“
„Ich habe alles gehört,“, sage ich erschöpft. „Vielleicht sollten sie wissen, dass ich mich an Nichts erinnere, was passiert ist, nachdem ich die Halle betreten habe, aber glauben sie wirklich Linnea hätte das alles inszeniert? Wieso liege ich hier im Krankenbett, wenn sie die Halle beinahe zerstört hat? Denken sie, Linnea hätte mich mit Absicht gerade so fertiggemacht, dass es realistisch wirkt?“, füge ich ein wenig wütend hinzu.
„Ich... Ben, ich verstehe, dass auch du aufgebracht bist, aber es wurden Tests durchgeführt. Du besitzt keine nachweisbare Fähigkeit und selbst für Linnea wäre es schwierig diese Zerstörung anzurichten.“
Ich fühle mich plötzlich kraftlos, habe keine Energie mehr wütend zu sein, kann sogar ein wenig verstehen, was Herrn König meint.
„Entschuldigen sie, das war unfair“, fange ich das Gespräch nach einigen Minuten des Schweigens wieder an. „Ich bin wirklich etwas mitgenommen. Könnten sie mir vielleicht einfach erzählen, was passiert ist und mich dann noch ein wenig in Ruhe lassen?“
„Natürlich. Ich wollte dich eigentlich sowieso nicht so lange belästigen. Ich kann dir allerdings auch nur erzählen, was Linnea gesagt hat. Laut ihr seid ihr gestern in die Halle gegangen und sie hat dir eine der Spritzen gegeben – die sie natürlich ganz zufällig dabeihatte – die wir verwenden um die Fähigkeiten mancher Esper zu aktivieren. Das Mittel darin wirkt wie ein Katalysator. Es beschleunigt und verstärkt die Kräfte der Esper, weswegen wir es auch nicht bei Schülern des E-Ranges verwenden. Auf jeden Fall behauptet Linnea, dass du dich, als das Mittel zu wirken begann merkwürdig verhalten hast und schließlich ohne Vorwarnung mit einer riesen Explosion die ganze Halle verwüstet hast... Dann hat sie dich hier hochgetragen und ist zu mir gekommen, um mir die Situation zu erklären. Es sollte dich also freuen, dass du nur einen Schultag versäumt hast und ich, trotz aller Zweifel entschieden habe dich in die Klasse 0 aufzunehmen, auch, wenn ich dich leider noch von gewissen Aufgabenbereichen ausschließen muss. Hast du noch Fragen?“
„Nein“, gebe ich müde zurück und schließe meine Augen.
Mittlerweile spüre ich in meinem Kopf ein monotones Hämmern und höre nur im Hintergrund, wie Herr König das Zimmer verlässt, bevor ich in einen unruhigen Schlaf falle.
„Ben?“, fragt eine mir unbekannte Stimme. „Ben? Sind sie wach?“
Ich öffne langsam meine Augen und sehe mich um. Immer noch das Krankenzimmer und über mich gebeugt eine Krankenschwester.
„Ja? Ja, ich bin wach. Was ist denn?“, nuschele ich halb in mein Kissen.
„Sie sind entlassen. Falls sie sich bereit fühlen, können sie jederzeit gehen“, informiert mich die Schwester knapp.
Ich komme gar nicht dazu zu antworten, so schnell bin ich auf den Beinen. Mein Körper brennt immer noch und ich stehe etwas unsicher, aber draußen sehe ich schon die untergehende Sonne und ich will unbedingt an die frische Luft. Mir fällt auf, dass ich immer noch die Kleidung von gestern trage, und, dass sie was auch immer passiert ist unbeschadet überstanden hat.
„Dann gebe ich Bescheid, dass sie gegangen sind?“
„Ja, bitte“, antworte ich nur, zu konzentriert darauf, auf meinem Weg zur Tür nicht zu stürzen.
Ohne einen weiteren Abschied verlasse ich das Zimmer und versuche mich daran zu erinnern, was der schnellste Weg hier raus war.
Wenige Minuten später stehe ich vor der Tür des Krankenflügels. Der Haupteingang liegt zwischen den Schwimmbecken, die vom Rest des Westhofes mit Hecken getrennt sind. Auf der anderen Seite der Hecke hört man das Platschen und Lachen spielender Schüler. Ich gehe zwischen den Hecken entlang, bis sich der Weg zum eigentlichen Hof erweitert. Ich sehe einige Leute auf den Tennisfeldern und es laufen sogar zwei Mädchen einige Runden um den Platz, aber ansonsten ist nicht wirklich etwas los. Also wende ich mich nach rechts zum Osthof, ohne zu wissen, was mich dort Besseres erwarten soll als hier.
Auf dem Osthof sind schon deutlich mehr Menschen und mir wird wieder ein wenig unbehaglich bewusst, dass ich hier doch eigentlich nicht hingehöre. Alle diese Menschen sind besonders, haben Fähigkeiten, die alles übersteigen, was ich mir je wünschen könnte. Während ich zum Turm gehe, schnappe ich einige Gesprächsfetzen auf.
„Haben heute den ganzen Tag Geschichte gehabt...“
„... ist so langweilig...“
„Ja! Wir auch...“
„... haben uns heute endlich getestet...“
Ich bleibe stehen. Was hatte der Junge gerade gesagt? Ich sehe mich kurz um und finde schnell die kleine Gruppe, von der die Gesprächsfetzen zu stammen scheinen. Unauffällig schlendere ich näher und setze mich auf eine Bank in der Nähe.
„... Einhundertzwanzig? Dein Ernst?“
„Klar. Was hast du denn?“
„Nur sechsundneunzig...“
„Ist doch auch gut. Bist du damit nicht immer noch ein B?“
„Nee, die fangen doch erst bei hundertzehn oder so an.“
„Ach ist doch egal. Du wirst sowieso noch besser. Wahrscheinlich hatte ich heute nur einen guten Tag.“
Ich stehe auf und gehe weiter zum Turm. Ich bin mir sicher, dass ich gesehen habe wo ich eingeordnet wurde, aber meine Erinnerung bleibt störrisch außer Reichweite, schmeißt mir nur vereinzelte Bilder der Halle entgegen, wie sie ausgesehen haben musste, nachdem... Was auch immer passiert war.
Ohne wirklich Lust auf irgendetwas zu haben, lasse ich mich auf mein Bett fallen und sehe mich in meinem neuen Zimmer um. Hier ist alles so groß, so luxuriös.
Nach kurzen Überlegen stehe ich wieder auf und setze mich vor die Glaswand, sehe nach draußen, auf den Hof, die Wälder, die die Schule umgeben. Meine Gedanken wandern nach Hause, wie es meinen Eltern wohl geht? Es hieß, dass sie dafür entschädigt werden, dass ich nicht mehr bei der Arbeit helfen kann. Überhaupt, wie kann ich nur so undankbar sein? Mir wird eine unglaubliche Chance zuteil und alles woran ich denken kann ist, dass nichts läuft, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber ist das so schlecht? Bisher wurde ich nur verwöhnt, seit ich hier bin. Ist es das, was mich misstrauisch macht?
Gerade als ich frustriert aufstehe um mir etwas zu suchen, das mich vom Denken ablenkt, geht hinter mir die Tür auf und Linnea tritt ein.
„Ben! Ich habe wirklich...“, ruft sie, bevor sie ganz im Raum ist.
„Ist okay, du wolltest mir doch nur helfen“, antworte ich schulterzuckend.
„Du glaubst also auch, dass ich das alles nur erfunden habe um dich hier zu behalten?“, kommt es resigniert zurück und ich drehe mich verwirrt um.
„Worauf willst du hinaus? Dass ich denke, du hättest die Halle zerlegt? Ich meinte, dass du das überhaupt alles für mich gemacht hast. Wir sehen ja, wie viele Scherereien dir das eingebracht hat.“
„Du bist nicht sauer, oder denkst ich hätte das gemacht um besser dazustehen?“, fragt sie gleichzeitig ungläubig und erleichtert.
„Glaub mir, wenn du wüstest wie ich mich gefühlt habe als ich aufgewacht bin...“, lächle ich zurück. Hinter mir höre ich es rascheln und dann sitzt Linnea neben mir, eng in ihre Bettdecke eingewickelt. Mit einem leisen Seufzen lasse ich mich auch wieder auf den Boden sinken.
„Ben?“
„Ähm... ja?“
„Wir haben von König eben einen Auftrag bekommen und müssen wahrscheinlich ein paar Tage weg. Würdest du mitkommen wollen?“, fragt sie mich hoffnungsvoll.
„Ich glaube kaum, dass König das erlaubt.“
„Mach dir um den mal keine Sorgen. Das könnte ich klären.“
„Meine Antwort bleibt trotzdem nein. Ich würde gerne einfach mal... Ein paar normale Tage hier verbringen, okay? Du weißt, wo ich herkomme. Das ist gerade alles etwas viel für mich.“
„Ich... klar. Ist wahrscheinlich sowieso besser.“
Es kehrte Schweigen ein. Wir sitzen einige Minuten nebeneinander, dann steht Linnea auf und geht ins Bad.
„Ich muss morgen früh raus.“
Linnea hatte Recht behalten, heute Morgen waren alle aus der Klasse 0 noch vor dem Frühstück abgereist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es den anderen Schülern nicht einmal besonders auffällt.
Die Klasse 0 ist zu besonders, um sie zu hinterfragen und nimmt scheinbar relativ wenig am allgemeinen Schulgeschehen Teil.
Als ich heute meinen Kleiderschrank aufmache, falle ich beinahe um. Es hieß meine Sachen würden hochgebracht werden, doch dem ist nicht so. Im Schrank sind komplett Neue. Einzig meine Tasche ist mir geblieben. Bedächtig betrachte ich die – meine – neue Kleidung. Alles ist neu und aus weichem, zarten Stoff. Es sind fünf schwarze Hemden, fünf schwarze Hosen und einiges an Freizeitbekleidung. Mehr, als ich je besessen habe. Schätze, dass die Klasse 0 doch so etwas wie eine Uniform hat und ziehe mich langsam an. Alles passt perfekt. Ich frage mich, ob Linnea die Sachen besorgt hat und fühle mich erneut schuldig, dass ich das alles so wenig genieße.
Das bisher einzig Gute daran, dass die Klasse 0 nicht da ist, ist, dass ich den Essensraum einmal mehr für mich alleine habe. Ich habe zugegeben ein wenig Angst davor, wie die anderen Mitglieder reagieren werden, wenn sie mich sehen. Hoffentlich sehen sie die ganze Sache nicht so eng, wie der Junge aus meiner Klasse. Wieder steht der Tisch voll von leckerem Essen und ich komme schon wieder fast zu spät zum Unterricht, weil ich hier zu viel Zeit vertrödele.
„Hallo 1-D“
„Hallo Herr Lindd.“
Zum Glück hatte ich Herrn Lindd vor der Kantine abgepasst und konnte so zusammen mit ihm in die Klasse gehen, was mir den Stress mit dem Jungen von letztem Mal ersparte, dessen Namen ich noch nicht einmal kenne. Schnell lege ich meine Sachen auf den Tisch. Heute haben wir in der ersten Stunde Geschichte und dann Wahlkurse. Ich habe Lindd gefragt, was genau das heißt und er sagte, wir hätten uns für gewisse Kurse einschreiben müssen. Ich habe offensichtlich auch welche gewählt. Lindd klärte mich auf, dass König mir die Aufgabe abgenommen haben musste. Ich weiß nicht, ob ich glücklich darüber bin, da mir Lind nicht aus dem Kopf sagen konnte, wo ich eingetragen wurde. Wahrscheinlich Töpfern oder so. Nach den Wahlkursen ist Mittagessen und für heute frei. Morgen haben wir auch nachmittags Unterricht, aber das stört mich nicht sonderlich. Lieber lerne ich etwas, als nutzlos auf dem Gelände herum zu irren.
„Irgendwann um 2018 gab es eine Katastrophe. Hat jemand eine Ahnung, was ich meine?“, fragt Lindd in die Klasse und Finger schnellen in die Höhe.
„Luisa?“
„Am 26.04., hat Amerika Nuklearraketen auf Russland abgefeuert, welche zurückschossen... Auf alle großen Städte Europas und Amerikas“, antwortet diese langsam.
Ich setzte mich in meinem Stuhl auf. Ich kenne die Geschichte des 3. Weltkrieges nur sehr verschwommen:
Eine neue Art Nuklearrakete war zum Einsatz gekommen. Überall auf der Welt kam sie runter und katapultierten uns wieder in die Steinzeit.
Das ist, was ich bisher weiß.
„Weiter. Wie ihr wisst, was der 3. Weltkrieg kein wirklicher Krieg, sofern man unter einem Krieg eine Kampfhandlung von über einer Stunde versteht. Die Welt wurde damals beinahe vernichtet, weil zwei Nationen sich über gewisse Dinge nicht einig werden konnte. Aber über die Auslöser werde ich später noch mit euch sprechen. Schreibt ihr mit?“, lautes Rascheln ertönt, als alle schnell ihre Blöcke hervorkramen.
„Also. Was ist passiert, nachdem die Raketen ihre Ziele trafen? Melina?“
„Die Stromversorgung brach zusammen, beinahe ein Viertel der Weltbevölkerung starb an diesem Tag. Mindestens zwei Milliarden Menschen wurden verstrahlt.“
„Da habt ihr mal jemanden, der das Buch lesen kann. Danke Melina“, lächelt Lindd, bevor er fortfährt: „Die Strahlung der Waffe, hat bis heute ungeklärte Nebeneffekte. Mutationen im Gehirn traten auf. Viele Menschen starben daran, doch einige überlebten. Die Esper. Anfangs waren die Mutationen sehr gering und instabil, aber über die Generationen haben sie sich stabilisiert. Es ist eine Art Evolution, nur um ein Tausendfaches beschleunigt...“
Ich klinke mich aus. Ich wusste nicht, dass sich damals nur zwei Parteien in den Haaren hatten. Wie kann man nur, weil jemand anderes bestimmte Forderungen, oder was auch immer der Auslöser gewesen sein mag, nicht erfüllt die ganze Welt riskieren, oder sogar opfern?
Ich schrecke auf. Wie lange war ich in Gedanken? Ich sehe kurz auf die Uhr.
Die Stunde ist fast vorbei. Und ich habe nichts mitgeschrieben!
„Also gut. Seid bitte noch kurz ruhig. Ich muss euch noch mitteilen, in welche Kurse ihr gekommen seid:“
Es folgten einige Namen und ich wartete ungeduldig auf meinen eigenen.
„Bertram, Lydia: Naturheilkunde. Connor, Ben: Kampfkunst. Deimar, Chris: Kampfkunst...“
Bitte, was?
Das kann jetzt nicht sein Ernst sein. Obwohl... Ich kann mir schon denken, warum König mich in Kampfkunst gesteckt hat. Wahrscheinlich denkt er, dass meine Fähigkeit, sofern ich überhaupt eine besitze sich am ehesten dort zeigt. Resigniert stehe ich auf und werfe meine Sachen in die Tasche. Ich muss Lindd noch fragen, wo ich hinmuss.
„Jetzt wartet doch mal kurz!“, ruft Lindd zum ersten Mal ein wenig verärgert. „Oder wisst ihr alle plötzlich wo eure Kurse stattfinden?“
Betretenes Schweigen setzt ein und ich lasse mich wieder auf meinen Platz fallen. So geht’s doch auch.
„In diesem Kurs geht es, wie ihr euch sicherlich schon gedacht habt, um den Einsatz eurer Fähigkeiten zum Kampf“, schallt der Lehrer über den Westhof.
Er trägt den passenden Namen Khaan.
„Ihr kommt aus verschiedenen Klassen, aber alle aus dem gleichen Jahrgang. Egal, welchen Rang ihr habt, ich entscheide, wer mit wem trainiert, ist das klar?“
Er blickt in die Runde dreißig eingeschüchterter Erstklässler, die noch nicht ganz wissen, wie sie mit diesem neuen Lehrer umgehen sollen.
„Außerdem werdet ihr alles was ihr hier lernt auch nur hier anwenden, verstanden? Wenn ich einen von euch beim Drangsalieren eines Schwächeren erwische, seid ihr raus!“
Wieder blickt er in die Runde und ich wippe ein wenig nervös auf den Fußballen hin und her. Ein Mädchen aus unserer Klasse, ich glaube Tina oder so, hat mir auf dem Weg hierher schnell die Farben erklärt. Die Es haben gar keine Uniformen, die Ds tragen blau, die Cs grün, die Bs grau und die A Schüler rot. Ich frage mich, wieso ich nicht wenigstens eine blaue Uniform bekommen konnte. Immer wieder bemerke ich, dass mich jemand verstohlen mustert:
Wer ist bloß der Typ in schwarz? Was macht einer ohne Uniform hier?
Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, dass ich zur Klasse 0 gehören könnte. Das würde extrem peinlich werden.
„Als Erstes holt ihr jetzt eure Sportsachen und kommt dann wieder her. Erscheint ab heute bitte immer direkt in Sportkleidung.“
Langsam verliert sich die Gruppe und auch ich versuche mich unauffällig durch die A-Unterkunft zum Eingang des Turmes zu schleichen. Denkste.
„Was willst du denn hier?“, höre ich jemanden aus dem Kampfkunstkurs spotten, der gerade in sein Zimmer gehen will. „Die Rang-E Idioten haben doch die Bruchbude da unten. Zisch ab!“
„Wenn du meinst... Habe ich mich wohl verlaufen...“
Man kann es glauben oder nicht, aber der Kerl war entweder der dümmste Mensch auf Erden, oder es kam wirklich niemand auf die Idee ich könnte hier zur Elite gehören. In beiden Fällen hatte ich wohl irgendwie Glück gehabt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass König nicht will, dass bekannt wird, dass ich in der Klasse 0 bin.
„Alle da? Ja? Gut. Dann sehen wir uns in drei Runden wieder. Los!“
Es herrscht ein wenig Verwirrung, doch dann beginnt sich die Menge der Schüler langsam zum Rand des Westhofes, der eine breite Laufbahn ist, zu bewegen. Dort kristallisiert sich dann auch direkt heraus, wer häufiger Sport macht und wer nicht. Einige Schüler laufen in beeindruckendem Tempo vor, der Rest kommt in Grüppchen mehr oder weniger zügig hinterher. Ich für meinen Teil bin sehr erleichtert. Drei Runden auf diesem Hof sind nun wirklich nicht die Welt und tatsächlich bemerke ich schnell und mit Erstaunen, dass ich nur knapp hinter der kleinen Gruppe laufe, die die ganze Gruppe anführen. Kurz vor Ende lege ich noch einen kurzen Sprint ein und schaffe es auch sie zu überholen. Etwas schwer atmend stehe ich vor Khaan.
„Gut gemacht Junge! Sagst du mir bitte deinen Namen?“
„Ben“, keuchen. „Ben Connor.“
„Klasse?“
„1-D“
Khaan zieht eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts. Gerade kommen die Anderen an und sehen mich nun alle mit Verwunderung, vereinzelt jedoch auch mit Wut an.
„...wieso kann der denn so schnell laufen?“
„Guck dir den doch an. Das ist einer von den E Typen. Klar, dass der schnell weglaufen kann...“
Ich höre unterdrücktes Lachen in der Gruppe, mache mir allerdings nicht die Mühe mich umzudrehen.
„Seid ihr alle warm?“, fragt Khaan laut und alle nicken, oder nuscheln ein leises Ja. „Gut. Dann kommt bitte alle her“, Khaan geht zu einer Kiste und hält ein kleines Gerät hoch. „Diese Dinger, nennen wir Blocker. Passend zu ihrem Namen können sie die Kräfte eines Espers absorbieren. Wenn sie das tun, blockieren sie allerdings auch die Fähigkeiten des Trägers, was sie für den Alltäglichen Einsatz leider unbrauchbar macht. Für unsere Zwecke sind sie allerdings perfekt. Damit ihr also von Anfang an auch zusammen üben könnt, trägt bitte jeder von euch einen von diesen. Sobald ihr von einer Fähigkeit getroffen werdet, aktivieren sie sich und absorbieren den Schlag. Auch hier gilt: Kämpft jemand ohne einen Blocker, ist er raus, verstanden? In diesem Kurs erwarte ich Disziplin.“, alle nicken eifrig und Khaan winkt uns zu ihm.
„Jeder einen. Und jetzt stellt euch zu Paaren zusammen. Ich gehe nach der Klassenliste vor.“
Ich nehme mir eines der Geräte und sehe sie mir an. An einem elastischen Armband ist eine kleine Scheibe befestigt, die einen Knopf und zwei winzige Lämpchen an der Seite hat.
„Ben, du gehst zu Chris“, höre ich Khaan sagen und sehe mich suchend nach meinem Partner um.
Chris ist ein großer und breit gebauter Junge. Ein großer und breit gebauter Junge, den ich kenne.
„So sehen wir uns wieder. Du bist ja anscheinend immer noch in unserer Klasse.“
„Offensichtlich“, gebe ich zähneknirschend zurück.
Das hier wird sicherlich kein Spaß.
„Und keine Klasse 0 Schlampe, die dir hilft.“
Ich werde wütend. Was hat Linnea jetzt damit zu tun!?
„Lass Linnea da raus. Sie hat dir nichts getan!“
„Oh, ist da etwa wer verl...“
„Ruhe!“, ruft Khaan und alle Zweiergruppen sehen ihn an. „Stellt euch bitte gegenüber auf und achtet darauf, dass ihr zu den anderen Gruppen genug Abstand habt.“
Es folgt eine kurze Phase des Chaos, an deren Ende alle Gruppen in einer breiten Reihe und mit einigen Metern Abstand zueinander auf dem Platz stehen.
„Auf mein Zeichen versucht den Esperkiller eures Gegenübers mit eurer Kraft auszulösen. Ihr seid alle noch Anfänger, also sollte nichts passieren können.“
Meine Anspannung fällt langsam von mir ab. Es wird nichts passieren. Chris wird mir, was immer seine Fähigkeit ist, entgegenwerfen und dann ist es vorbei. Ich kann hoffentlich gehen und Chris hat es mir gezeigt.
Eine perfekte Win-Win Situation.
„Los!“
Bevor ich von Khaan wieder zu Chris gucken kann, holt dieser aus und macht eine weitreichende Wurfbewegung in meine Richtung. Erst, als der dünne Eiszapfen direkt vor meiner Brust schmilzt und auf mein Hemd spritzt, realisiere ich, dass ich zu langsam war. Der Blocker ist losgegangen. Neben mir höre ich plötzlich ein lautes Sirren. Das Mädchen neben mir flucht und verlässt die Reihe. Ich sehe verwirrt auf mein Armband. Die grüne Lampe leuchtet noch.
Auch Chris scheint bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmt und wirft erneut. Ich sehe auf mein Armband und der Eiszapfen schmilzt erneut wenige Zentimeter vor meinem Körper. Ich fühle mich auf eine komische Art und Weise erfrischt, die Lampe steht immer noch auf grün und Chris guckt ziemlich dämlich aus der Wäsche. Nach wenigen Sekunden fängt er sich allerdings und wirft drei Mal schnell hinter einander, lächelt gewinnend, als würde der Trick, den ich verwende nun auf keinen Fall mehr funktionieren. Ich strecke meine Hand aus und beobachte, wie sie die Eiszapfen scheinbar einsaugt. Dünne schwarze Fäden driften durch die Luft davon, während in meinem Inneren beinahe eine Bombe hochgeht. Ich habe eine Fähigkeit! Egal, was es ist, egal wie wenig es ist: Ich bin ein Esper!
Ich lache laut auf und viele drehen sich verwirrt um. Daraufhin gehen mehrere Blocker los und das Sirren erfüllt den ganze Schulhof. Langsam wird Chris rot im Gesicht und beginnt in wahnsinnigem Tempo nach mir zu werfen, während seine Stirn vor Schweiß zu glänzen beginnt. Die Eiszapfen verfehlen mich zu einem guten Teil, aber mindestens ein Dutzend finden ihr Ziel und durchnässen langsam mein Hemd, während mir ganz warm wird. Nun ist es an mir. Einem plötzlichen Impuls folgend und auf das Risiko, mich absolut lächerlich zu machen, ahme ich Chris Bewegung nach und, obwohl nichts passiert, spüre ich, dass etwas in mir brodelt und konzentriere mich. Zahlreiche dünne Fäden, fast wie Dampf, lösen sich von meinem Hemd und steigen auf, werden vom Wind weggeweht. Erneut versuche ich es. Um uns herum hat sich mittlerweile der ganze Kurs versammelt und ich höre einige Lacher, als ich aushole und scheinbar Nichts werfe. Doch, kurz, bevor ich die Bewegung vollendet habe, merke ich, wie etwas in mir zieht, wie die Energie, die mich gewärmt hat nach außen strömt und in einem schattenhaften Abbild eines Eiszapfens auf Chris zu fliegt und an seinem Arm entlang schrammt. Ich höre ein Sirren, welches jedoch beinahe sofort erstirbt und sehe mit Erstaunen, wie die Schramme auf Chris Arm sich langsam rot färbt... Dann spüre ich eine unheimliche Welle Energie, die mich straucheln lässt, während um mich herum alle in Panik ausbrechen.
Wieso hat der Blocker nicht funktioniert?
Ich fühle mich merkwürdig. Einerseits ist alles wie immer, andererseits ist da eine Leere, die mir bisher nie bewusst gewesen ist und die ich mit nichts zu füllen weiß. Ich sitze einmal mehr im Krankenflügel und ein Arzt wuselt schon seit Minuten geschäftig um mich herum. Mir ist es egal. Das Erste was kam, war eine Messung, wie stark meine Fähigkeit ist. Sie haben minimale Veranlagungen gefunden, die aber nicht einmal als passive Begabung durchgehen konnten. Dann ging es an den Rest: Wieso war ich umgekippt? Wie hatte ich es geschafft den Blocker zu umgehen? Wie sorgte man dafür, dass Chris mich nicht umbrachte, sobald ich ihm erneut über den Weg lief?
Alles Fragen, auf die niemand eine Antwort finden konnte. Einige Minuten später werde ich wieder entlassen und stehe erneut ratlos auf dem Schulhof, gucke auf meine neue Uhr. In einer halben Stunde gibt es Mittagessen. Ich habe wieder mal zwei Stunden des Unterrichts verpasst. Kann ich nicht wenigstens einen Tag Ruhe haben? Einen Tag Normalität? Seufzend setze ich mich in Bewegung und überlege im Gehen weiter. Am Besten ziehe ich mir jetzt kurz etwas Neues an und gehe dann essen. Danach kann ich ja weitersehen.
Nach dem Essen – Es gab Lachs mit Nudeln und Spinat – stehe ich allerdings erneut ohne Plan da, bis mein Blick auf den Turm fällt. Ich wohne dort nun schon einige Tage – auch wenn ich zugegeben wenig Zeit dort verbracht habe – und trotzdem kenne ich kaum mehr als mein eigenes Zimmer. Ich beeile mich, zum Eingang in der Lehrerunterkunft zu kommen, um nicht noch einmal durch die Unterkunft der Rang A Schüler zu müssen und ziehe meinen Schülerausweis durch den Kartenschlitz. Im Treppenhaus des Turmes fällt mir auf, dass sich auf dem ersten Absatz eine kleine Tür in der Wand befindet und ich schiebe sie neugierig auf. Wenn ich mir schon meine Unterkunft ansehen will, wieso nicht gleich hier anfangen? Offensichtlich gehört es ja schon zum Bereich der Klasse 0. Direkt hinter der Tür führt eine steile und relativ schmale Treppe nach oben. Es ist stockdunkel. Ein wenig widerstrebend, lasse ich das Licht des Flurs hinter mir und gehe langsam die Treppe hinauf, taste mich an der Wand entlang, bis ich nach wenigen Metern das Ende der Treppe erreiche. Meine Hand bekommt eine Türklinke zu fassen. Ich drücke sie beherzt und werde im nächsten Moment von strahlendem Sonnenschein begrüßt.
Ich bin auf eine Dachterrasse hinausgetreten.
Direkt vor der Türschwelle, beginnt ein kleiner Kiesweg, der schnell zwischen den hohen Pflanzen verschwindet, die hier auf jeder freien Fläche zu wachsen scheinen. Die Tür ist von Efeu überhangen und ich kann von hier nur den Turm der Klasse 0 sehen, der dahinter in den Himmel ragt. Ein wenig verwundert, über diesen Garten auf dem Dach der Lehrerunterkunft, folge ich dem Kiesweg. Am Wegrand finden sich nun immer mehr Blumen, bis die Büsche und Sträucher zurückweichen und einer kleinen Wiese Platz machen. Am anderen Ende, sehe ich ein Geländer. Davor besteht der Boden aus Steinplatten, an deren Rand eine kleine Hütte steht. Neugierig gehe ich hinüber und drücke gegen die Tür. Sie ist nicht verschlossen und ich kann eintreten. Im Zwielicht erkenne ich Gartengeräte, einen Grill und Holzkohle. Ist das hier der Garten der Klasse 0? Niemand sonst hat Zugang, also muss es ja so sein, oder?
In mir wächst erneut Erstaunen. Wieso werden diese Kinder so sehr bevorzugt? Was tun sie, um das hier alles zu verdienen? Ich verlasse die kleine Hütte wieder und lasse meinen Blick über die Wiese streifen, gehe zum Geländer und sehe hinunter. Ich stehe tatsächlich auf dem Dach der Lehrerunterkunft und kann unter mir die Schwimmbecken des Westhofs erkennen. Eine leichte Brise kommt auf und ich höre hinter mir das vielstimmige Rascheln der Blätter. Einem Impuls folgend, ziehe ich meine Schuhe und Socken aus und gehe dann auf die Wiese, spüre das Gras zwischen meinen Zehen, lege mich hin und sehe einfach in den Himmel, schließe nach einigen Minuten die Augen. Wie sehr habe ich diese Ruhe vermisst? Zu Hause bin ich häufig raus auf die Felder gegangen und habe mich irgendwo auf einen Grasstreifen gelegt und unser Buch – ja, wir hatten tatsächlich ein Buch – gelesen, oder einfach entspannt.
Ich öffne verschlafen die Augen. Ich glaube, ich bin wirklich eingenickt. Langsam gehe ich zum Geländer und stütze meine Arme auf. Unten auf dem Westhof herrscht reger Betrieb und ich schaue auf meine neue Armbanduhr:
17:03
Scheiße! Ich habe wirklich bis zum Abendessen geschlafen! Sofort bin ich hellwach, schnappe mir meine Socken und Schuhe, ziehe sie schnell an und eile den Kiesweg hinab zu der Treppe. Ich stolpere fast, als ich die Tür hinter mir zuziehen und sofort weiterlaufen will. Wie konnte ich nur einschlafen? Mein Schülerausweis weigert sich störrisch durch den Kartenschlitz zu gehen und ich stoße die Tür genervt und etwas zu heftig auf, als ich weiter eile.
Zum Glück esse ich im Raum der Klasse 0 und sitze so nicht alleine im Hauptraum der Kantine. Eine gute halbe Stunde später als alle anderen verlasse ich das Gebäude und sehe zum Himmel, wo die Sonne sich langsam dem Horizont nähert. Der Osthof ist leer und ich beeile mich in den Turm zu kommen. Aus irgendeinem Grund ist mir unwohl zu Mute. Ich sehe mich schnell um. Am Baum steht eine Gruppe Jungen in blauer Uniform. Ein Schauer überläuft mich und ich beschleunige meine Schritte. Die Gruppe wird ebenfalls schneller, aber die Jungen haben anscheinend nicht bedacht, dass ich nur zur Lehrerunterkunft und nicht zu der, der E-Rang Schüler gehe. Wir laufen im gleichen Moment los und ich stürme durch die Tür, nun sicher, dass es Chris und seine Freunde sind. Es lieber nicht darauf ankommen lassend, ob sie mir folgen, laufe ich direkt weiter, die Treppe hoch und verzweifle dann erneut am Kartenschlitz, schlüpfe in dem Moment durch die Tür, in dem ich Stimmen auf der Treppe höre. Ha! Die können mich lange suchen! Breit grinsend mache ich mich auf den Weg in mein Zimmer.
Dort wird mir jedoch bewusst, dass genau das das Problem ist. Sie können mich lange suchen, während ich nur sehr begrenzt Zeit habe, mich zu verstecken. Ich beginne langsam hysterisch werdend im Kreis zu laufen. Morgen bin ich geliefert. Wie soll ich Chris den ganzen Tag, oder sogar noch länger komplett ausweichen? Und was wird passieren, wenn ich es nicht schaffe?!